Es ist zwei Uhr Nachmittags, mit meinem Schlüssel öffne ich das Messingschloss der Gappohytta.
Heute morgen um neun Uhr lief ich los. 20 Kilometer zu laufen. Herbstwetter überall. Die Wolken hingen tief. Den ganzen Weg lang schubste mich der Wind umher. Mal von Hinten, von Vorn, von der Seite. Versuchte mir die ewig flatternde Regenhülle des Rucksacks wegzufegen, blies mir den Nieselregen ins Gesicht. Der Weg führte mich durch eine Landschaft, die der Kulisse von “Der Herr der Ringe “ zu entsprechen schien. Tosende Wasserfälle, von Flechten übersäte Geröllhalden, ich verschwand in den Wolken, erhaschte nur manchmal kurze Blicke auf die schroffen Berge um mich herum. Weiter durch weite Täler, gänzlich in den verschiedensten Rot, Gelb, Braun und Grüntönen und Schattierungen gehalten. Die Wolken hingen immernoch tief. Nur manchmal durchbrach die Sonne die Wolken. Eine ganz besondere, gedämpfte Stimmung, die leicht bedrohlich wirken kann, mir aber das Gefühl gibt, ein Teil des Ganzen zu sein. Ich fühle mich total wohl, lebendig, frei.
Ich werde heute keinem Menschen begegnen. Eine ganze Weile hinter mit läuft Michael aus Dänemark, sonst ist niemand hier. Man merkt schnell, wie klein und unbedeutend man ist, wenn die Natur wirklich will, ist man hier schnell in Schwierigkeiten. Aber hier hat man auch viel Platz, um die Gedanken schweifen zu lassen, ihnen einfach nachzuhängen: Wann habe ich zu letzt fern gesehen? Ein Auto selbst gefahren? Eine Stadt betreten? Eine Ampel benutzt? Was machen meine Leute zu Hause? Wie geht es ihnen? Wie denken sie über meine Tour? Wie reden sie darüber? Was ist alles in der Zeit in Deutschland passiert? Hat der BVB gewonnen? Was wird sich nach der Tour verändern?
Die verschiedensten Dinge kommen und gehen einem durch den Kopf. Völlig faszinierend was der Kopf da so alles ausgräbt.
Aber alles ist eigentlich unwichtig, ich möchte jetzt hier mit keinem in der Welt tauschen. Mit niemandem. Trotz Nieselregen, Kälte, Wind, ständig laufender Nase. Was für eine Reise. Was für ein Luxus. Was für eine Erfahrung. Wie weit ich schon gelaufen bin.
Ich trete ein. Sehe kurz nach, ob der Besucher vor mir Trinkwasser geholt und Anmachholz bereit gelegt hat. Die Blecheimer in der Küche sind randvoll und Holz ist auch da. So sollte es sein. Schnell ziehe ich die nassen und dreckigen Stiefel und Klamotten aus, lasse sie im Vorraum liegen. Stelle den Wasserkessel auf die Gasflamme des Kochers in der Küche und starte den Ofen. Zwei große Scheite rechts und links, in der Mitte Birkenrinde als Zunder, darüber kleine Holzscheite. Reiße ein Streichholz an, schnell bollert der Ofen los. Schnell macht sich behagliche Wärme breit. Ich wechsle die Klamotten, die Katzenwäsche am Bach spare ich mir heute. Hänge alles zum trocknen auf das Holzgestell über dem Ofen. Das Wasser im Kessel kocht, schnell steht ein Pott mit dem roten “T“ vor mir, es duftet nach Kaffee. Draußen bläst der Wind, heult und zerrt an der Hütte, Nieselregen klatscht ans Fenster.
Ich esse eines der drei Fertiggerichte, die mir zur Auswahl stehen. Die Auswahl bei Getränken ist ähnlich, Wasser, Tee oder Kaffee. Möchte ich etwas anderes, hätte ich es mitbringen müssen. Habe ich etwas vergessen, Pech gehabt. Die Tagesration Schokolade, eigentlich für den Weg geplant, sparte ich mir für heute Abend. Ich verliere jedes Zeitgefühl, es scheint den ganzen Tag zu dämmern. Kerzen brennen, ich lese ein Buch, eines auf Deutsch gab es hier. Michael kommt irgendwann an. Um sieben Uhr wird es stockfinster sein. Vielleicht werde ich nachher noch den unfassbaren Sternenhimmel sehen, vielleicht die Milchstraße und sogar Nordlichter. Vielleicht aber nur klatschnass werden auf dem Weg zum Holz holen und zurück in den 20m entfernten Schuppen mit dem Brennholz und dem Außenklo.
Ich starte den iPod, mein kleiner Luxus auf Tour. Die Stimme von Eddie Vedder erklingt, “Society“.
So kitschig und abgedroschen das Lied auch ist oder auch sein mag. Ist da nicht manchmal was dran? Ist manchmal nicht weniger mehr? Ich bin froh, ohne viel Ballast umherzuziehen. Nur das was ich tragen kann und vor allem will. Es zählt kein morgen und auch nicht die 116 Tage vorher, nichts vorher und nichts nachher, nur das hier und jetzt. Kein Strom, kein Radio, kein Internet oder Handy. Die totale Entschleunigung. Kann es etwas Schöneres geben? Nur das Bollern des Ofens, etwas Warmes zu Essen und zu Trinken, im Trockenen sitzen. Um halb zehn liege ich müde im Bett. Ein Hoch auf Norwegen, seine Landschaft und seine Hütten. Ich liebe einfach den Herbst und ich liebe den Norden. Manchmal kann es so einfach sein.