Josten pa langs – eigentlich eine Traumtour
Auf nach Grönland – ein langgehegter Traum soll in diesem April eigentlich für mich in Erfüllung gehen. Einmal in das sagenumwobene Grönland reisen, dieses fremde und faszinierende Reich der Inuit, von dem ich schon so viel gelesen und gehört habe.
Zusammen mit meinen beiden Kumpeln Chris und Martin war ich im letzten Oktober in der norwegischen Hardangervidda unterwegs. Gemeinsam wollten wir den Hardangerjøkulen umrunden, einen Gletscher eingebettet am Rande der größten Hochebene Europas, eben der Hardangervidda. Alles verlief auf dieser spätherbstlichen Tour wie am Schnürchen und unser kleiner Trupp erlebte eine der schönsten Tourwochen, die ich jemals im skandinavischen Norden erleben durfte. Wir genossen jeden einzelnen Moment dieser Wanderung in vollen Zügen. Es war in dieser Konstellation unsere erste gemeinsame Tour und wir verstanden uns auf Anhieb blendend. Während dieser Woche kam Martin eines Abends mit der Idee auf uns zu, im nächsten April eine ausgedehnte Wintertour in Grönland zu unternehmen. Er war bereits mehrfach dort Sommers wie Winters unterwegs und hat auch schon zweimal das gigantisch große Inlandeis auf Ski überquert, seine Augen blitzten immer auf, wenn er davon erzählte. Martin arbeitet dieser Tage an einem Buchprojekt, deren krönender Abschluss diese Tour werden sollte und wir könnten ihn dabei begleiten, wenn wir mögen. Ohne zu zögern schlugen wir ein, eine absolute Traumtour wurde uns quasi auf dem Silbertablett präsentiert, da griffen wir natürlich direkt und ohne große Umschweife zu. Wir gaben sofort unsere Zusage und schlugen bei Martin ein, da mussten wir nicht lange überlegen.
Zurück aus Norwegen geht es direkt an die Planung der Grönland-Tour. Es müssen noch Unmengen von Ausrüstung organisiert, der genaue Reisezeitraum festgelegt und natürlich die Flüge gebucht werden. Mittlerweile steht auch fest, dass uns Gitti, die Freundin von Chris, begleiten wird. Es soll nach Narsarsuaq im Süden der Insel gehen, von wo aus wir für 20 Tage hinein in den arktischen Winter aufbrechen wollen. Dort in dieser Gegend werden wir nicht auf Eisbären treffen und können uns auch relativ problemlos dem spektakulären Inlandeis nähern, eventuell sogar den ein oder anderen Berg besteigen.
Die Zeit rast derweil, das neue Jahr nimmt seinen Anfang und alles beginnt sich langsam zu fügen, der ganz normale Wahnsinn eben, wenn man solch eine große und lange Wintertour plant. Die Vorfreude steigt von Tag zu Tag, die bestellten Landkarten trudeln ein und werden studiert. Und noch mehr Literatur über Grönland wird verschlungen, bis sich schließlich großartige Bilder von roher arktischer Weite und einer faszinierenden Kultur sich vor unserem inneren Auge einnisten.
Wo bleibt der Schnee in Südgrönland?
Je näher unsere Tour rückt, desto öfter blicken wir gebannt auf die Satellitenbilder und Wetterberichte der grünen arktischen Insel. Wir müssen uns kneifen, denn was wir sehen, bereitet uns von Tag zu Tag immer größere Sorgen. Dort wo eigentlich alles tief verschneit sein sollte, gähnen uns schneelose Täler und Berge an. Wie kann das denn sein? Der Fjord dort ist doch dick zugefroren, wie wir von einem örtlichen Hotel erfahren, mit dem wir in Kontakt stehen. Auch die Temperaturen sind konstant kalt, aber es fehlen schlicht und einfach die entsprechenden Niederschläge, sprich der Schnee kommt und kommt nicht.
Die Telefondrähte zwischen München, Wuppertal und Tübingen beginnen zu glühen, die Nervosität wegen dem ausbleibenden Schnee geht schon bald in leichte Panik über. Was, wenn dort bis zu unserer Tour kein Schnee mehr fallen wird? Ohne Schnee können wir nicht mit Ski und Pulka gehen, wir könnten in dem tief gefrorenen Boden nicht einmal ein Zelt aufschlagen, wir bräuchten für die Heringe einen Presslufthammer. Ohne viel Schnee ist eine Wintertour dort einfach unmöglich. Insbesondere für Martin und sein Buchprojekt wäre das eine Katastrophe, die Tour ist für das Buch fest eingeplant, er müsste seine Pläne für die Veröffentlichung weit nach hinten verschieben, die gesamte Buchproduktion würde über den Haufen geworfen.
Unser Reisezeitraum ist festgelegt, den können wir nicht so einfach verschieben, um auf Schnee zu warten, unser Arbeitsalltag lässt das leider nicht zu. Auch die Reise umzubuchen ist nicht möglich, wir haben einen günstigen Low-Fare Flug gebucht, den man nicht kostenlos umbuchen kann. Und eine andere Gegend zum Beispiel im Osten Grönlands kommt für uns nicht in Frage, wir müssten dort eine Waffe sowie einen Zaun zur Abwehr von Eisbären mitführen, beides steht uns aber leider nicht so ohne weiteres zur Verfügung, vom sicheren Umgang mit einem großkalibrigen Gewehr mal ganz zu schweigen. Guter Rat ist nun also mehr als nur teuer!
Ungefähr zwei Wochen vor dem Abflug muss dann eine Entscheidung getroffen werden. Es tut unheimlich weh, aber die Tür nach Grönland hat sich endgültig geschlossen, es ist immer noch kein Schnee in Sicht, es besteht dringend Handlungsbedarf. So schwer es auch fällt, wir müssen Grönland streichen. Ein äußerst bitterer Moment, insbesondere für Martin, der dort die letzten Bilder für „Mein Norden“ schießen will. Was wir nun mit unseren extra neu angeschafften riesigen Acapulka Pulkaschlitten machen sollen, wir wissen es nicht.
Es ist immer gut, schnell einen Plan B zur Hand zu haben
Aber was nun? Nachdem wir die Flüge gecancelt haben, was dank der gewählten Tarife mit einem hohen Verlust einher geht, überlegen wir, was wir anstelle der ursprünglich geplanten Tour machen könnten, denn Urlaub haben wir ja trotzdem. Nach kurzem hin und her kommt für uns eine Wintertour mit sicheren Schneeverhältnissen eigentlich nur in Norwegen in Frage. Das kennen wir ja aus dem Effeff und es liegt dort in diesem Winter auch reichlich Schnee. Eine spannende Tour ist zudem schnell gefunden, wir wollen nun den Jostedalsbreen, den größten Gletscher Festlandseuropas, überqueren. Eine Traumtour, die uns ob der üppigen Schneemenge in diesem Jahr durchaus als machbar erscheint.
Klar ist uns sofort, dass dies eine sehr anspruchsvolle Tour werden wird, die einige knifflige Passagen enthält, aber genau das ist ja nach unserem Geschmack. Martin hat sich sogar schon zweimal erfolglos an dieser spektakulären Tour versucht, das schlechte Wetter und zu wenig Schnee zwangen ihn beide Male zum Aufgeben und zum Rückzug. Wir sind also gewarnt.
Der Plan B nimm rasch Formen an, wir werden mit dem Auto von Deutschland aus über Dänemark und mit der Fähre ins norwegische Pollfoss fahren. Dort an dem kleinen Berggasthof werden wir dann unser Auto stehen lassen, wollen wir doch nicht nur den Jostedalsbreen, sondern auch seine nördlicheren Ausläufer Sikillsbreen und Austedalsbreen überqueren. Der Übergang zwischen den Gletschern bildet eine Art Talkessel, der von allen Seiten vom ewigen Eis umgeben ist. Hoffentlich liegt dort genug Schnee, ansonsten können wir den Aufstieg auf den eigentlichen Jostedalsbreen über die steile Zunge des Småttene vergessen, die gigantischen Spalten im Eis dort wären ansonsten für uns unüberwindlich und vor allem auch zu gefährlich, um sie mit unserem riesigen Gepäck zu überwinden. Das Ende unserer Tour wird dann hoffentlich das pittoreske Bücherdorf Fjærland, direkt unten am gleichnamigen Fjord gelegen, bilden, von wo aus wir mit dem Bus wieder zurück zum Ausgangspunkt in Pollfoss fahren können. Soweit der neue spannende Plan.
Da wir uns in Norwegen ja gut auskennen, ist der Plan B schnell organisiert, nur bei der Ausrüstung müssen wir etwas umstellen, da das Gelände nun deutlich alpiner und anspruchsvoller werden wird. Auch die riesigen neuen Schlitten müssen daheim bleiben, sie sind nun viel zu groß und zu schwer. Es wandert also eine leichte Gletscherausrüstung mit ins Gepäck, und wir versuchen unsere Packliste auf das Nötigste zusammenzustreichen, da wir unter Umständen alles auf dem Rücken im Rucksack transportieren müssen. So ein Gletscher ist einfach mitunter sehr viel steiler als die weiten Täler Südgrönlands. Nach der großen Enttäuschung über die Absage der einen, steigt nun endlich wieder die Vorfreude auf die neue Tour, der Blick richtet sich wieder nach vorn.
Grönland oder Norwegen, Hauptsache Schnee
Und so finden wir uns am Vorabend der Tour bei Martin in Wuppertal ein, um unsere Ausrüstung ein letztes Mal zu checken, letzte Besorgungen zu machen und das Auto mit dem riesigen Wintergepäck zu beladen. Uns allen fällt ein großer Stein vom Herzen, dass es nun doch noch auf eine äußerst spannende Tour gehen wird. Wie spannend, das kann zu diesem Zeitpunkt noch keiner von uns ahnen.
Fröhlich und voller Vorfreude steigen wir ins Auto, um nach Norddänemark zu fahren. Dort wollen wir am Abend in der Jugendherberge der Fähr- und Fischereistadt Hirtshals übernachten. Die Anreise vergeht ereignislos und sehr entspannt, wir kommen zeitig in Hirtshals an und gehen direkt als erstes zum Strand. Der Nordseestrand dort oben ist für mich ein echtes Sehnsuchtsziel geworden, erst wenige Wochen zuvor war ich genau hier mit meiner Freundin von unserer Strandwanderung von Klitmøller nach Hirtshals über den Jahreswechsel angekommen. Wir erklommen damals die Holztreppe, die zwischen den Dünen hinab zum Strand führt, und hatten unsere ganz wunderbare Wanderung mit viel Wehmut beendet, wir hätten für immer weiter am Strand entlang wandern können.
Am nächsten Morgen stehen wir zeitig auf, um die Fjordline Fähre nach Norwegen zu nehmen. Das Wetter ist etwas usselig, die Sonne lässt sich zu dieser Uhrzeit noch nicht blicken. Die Vorfreunde aber auch Anspannung macht sich bei mir breit. Wir werden erst am frühen Nachmittag in Langesund ankommen und dann steht uns noch ein gut 550 Kilomter langer Roadtrip nach Pollfoss bevor. Es ist der Freitag vor den Osterferien, wir müssen unterwegs Oslo passieren und die E6 gen Norden nehmen, man hatte uns vor verstopften Straßen und langen Staus gewarnt. Nicht, dass die Fahrt auch so schon mindestens umd die acht Stunden dauern würde. Aber wir wollen direkt am nächsten Morgen starten, um die uns für die Tour bleibende Zeit optimal auszunutzen, da müssen wir das wohl oder übel in kauf nehmen.
Und so reißen wir Kilometer um Kilometer ab, die Reisegeschwindigkeit kann man dabei nicht mit der in Deutschland vergleichen, selten zeigt der Tacho mehr als 70 oder 80 km/h an. Aber dafür ist die Umgebung, die an unserem Autofenster vorrüber zieht, wunderschön anzusehen. Ich komme endlich wieder in meinem zu Hause an, langsam aber sicher. Es wird schon dunkel, als wir bei Lillehammer endlich ins Gudbrandsdalen einfahren. Bis Otta folgen wir dem großen Lågen Strom, der die Wassermassen aus den Bergen gen Meer tranportiert. Von Otta an wird die Straße noch kleiner und wir brausen langsam und schaukelnd durch die hereinbrechende Nacht. Müdigkeit macht sich bei allen breit, wir sind ziemlich gerädert. Es ist bereits stockdunkel als wir total abgekämpft und hundemüde das Hotel gegen 23 Uhr erreichen. Wir checken ein und fallen alsbald ins Bett.
It’s 106 miles to Pollfoss. We got a full tank of gas, half a pack of Kvikk Lunsj, it’s dark and we’re wearing sunglasses
Wir stehen aufgereiht vor dem Hotel in Pollfoss und sind bereit zum Aufbruch. Eine halbe Ewigkeit lang haben wir am Morgen nach dem Frühstück unsere Ausrüstung sortiert und gepackt. Im Hotel sah es aus, als ginge gerade eine Inventur in einem Outdoorladen vonstatten. Überall im Eingangsbereich lagen Schlafsäcke, Zelte und hunderte verschiedener Ausrüstungsgegenstände herum. Geredet wurde nur das Nötigste, wir alle waren fokussiert darauf, auch ja nichts zu vergessen und nur das mitzunehmen, was wir wirklich brauchen würden: „Wie viele Abendessen hast du eingepackt? Sollen wir nicht lieber zwei der schweren Schneeschaufeln hier lassen? Schließlich kommt es auf beinahe jedes Gramm an, wenn wir bei den steilen Anstiegen unsere Sachen komplett auf dem Rücken tragen müssen!“
Endlich geht es los ins Abenteuer
Letztendlich sind die Schlitten aber doch schwerer geworden als gedacht. Uns schwant, dass es eine ziemliche Plackerei werden wird, sollten wir die kompletten Schlitten samt Inhalt unterwegs irgendwann einmal tragen müssen. Aber das ist nun erstmal egal, denn wir sind bereit zum Abmarsch. Wir haben noch den aktuellen Wetterbericht für die nächsten Tage an der Rezeption ausgedruckt und schon ziehen wir los. Erst einmal geht es um das Hotel herum zu einem Fahrweg, der uns über einige Kilometer hin zum eigentlich Einsteig unserer Tour bringen wird. Wir folgen der geräumten Straße und gewöhnen uns dabei langsam an das Ziehen der Pulkaschlitten. Um flexibel zu sein und Gewicht zu sparen, greifen wir bei dieser Tour auf sehr leichte und preiswerte Kunststoffschlitten zurück, sogenannte Paris-Sledges. Diese kosten nicht viel und sind sehr leicht, sind aber mitunter etwas störrisch und nicht so komfortabel zu ziehen wie die praktischen Acapulka-Schlitten, mit denen wir sonst im Winter losgehen.
Zudem ziehen wir die Plastikschlitten mit einem einfachen Seil statt mit einem Führung gebenden Gestänge, wie es ansonsten üblich ist, hinter uns her. So laufen die orangenen Schlitten manchmal ohne ersichtlichen Grund in alle möglichen Richtungen und es bedarf eine Zeit der Eingewöhnung. Insbesondere bergab überholen einen dann die blöden Dinger mit einem Affenzahn und krachen einem gerne auch einmal von hinten in die Fersen, sodass man regelrecht von ihnen umrasiert und unfreiwillig in den Schnee befördert wird.
Wir kommen gut voran, der Schotterweg ist geräumt und ermöglicht uns auch noch ohne Ski eine gute Geschwindigkeit, genau richtig, um sich einzugewöhnen. Irgendwann aber geht es dann endlich auf Ski weiter. Wir wollen einem Fahrweg folgen, der im Sommer zur großen DNT Hütte Sofa Sæter führt. Jetzt im Winter ist er allerdings nicht geräumt und zudem recht steil, wir schnallen also unsere Ski vom Schlitten und unter unsere Skischuhe. Mit den brandneuen Steigfellen versehen ermöglichen die Ski uns auch bei tieferem Schnee hier auf dem Anstieg einen sicheren Halt. Wir müssen an Höhe gewinnen, ist doch der Plan, entlang eines Höhenzuges bis oberhalb der Staumauer des Rauddalsvatnet zu gelangen. Wir wollen morgen über den zugefrorenen See hin in Richtung der DNT Hütte Skridulaupbu laufen. Aber da wir nicht durch das Tal entlang des Framrusti Flusses bis hin zur Staumauer laufen und diese einfach so überwinden können, müssen wir über den Höhenzug, der die Mauer südlich einrahmt, laufen, um dann neben der Mauer über eine lange Holztreppe zum Ufer zu gelangen. Diese Treppe ist dabei für uns ungemein praktisch, sind doch ansonsten die Hänge hinab zum See ziemlich steil und mit dem sehr tiefen Schnee zwischen den Fjellbirken auch nahezu unüberwindlich. Von der Lawinengefahr mal ganz zu schweigen.
Rasch kommen wir voran und folgen einem schmalen Pfad, der immer am Hang entlang hin zur Staumauer führt. Allerdings liegt hier teilweise so viel vom Wind verpresster Schnee, dass es an einer Stelle für uns etwas zu steil und riskant wird. Mit vereinten Kräften müssen wir die Schlitten an der Hand geführt und ohne Ski über ungefähr 50 Meter ziehen. Wenn man hier unachtsam ist, kann man sich leicht einige hundert Meter weiter unten im Tal mit zerschmetterten Knochen wiederfinden.
Diese Stelle überwinden wir dank unseres Teamworks rasch und sicher, wir sind erleichtert. Bald darauf erreichen wir eine Anhöhe, von der aus wir den See und die Staumauer erblicken können. Der Wind frischt ob der exponierten Lage auf, wir ziehen uns während der Pause, die wir dort einlegen, warm an. Dann erkunden wir das weitere Vorgehen und suchen den Zustieg zur erwarteten Treppe. Diese ist schnell entdeckt, aber der Weg dorthin ist weitaus schwieriger als gedacht.
Mühelos kommt man bis auf ungefähr 20 Meter an die steile Holzkonstruktion heran, dazwischen liegt allerdings ein steiles Schneefeld, das zumindest mir beim ersten Anblick die Stirn runzeln und den kalten Schweiß ausbrechen lässt. Darüber müssen wir heute noch gelangen? Das wird aber eine ziemlich große Herausforderung werden. Wir besprechen uns und kommen zum Schluss, dass wir wohl oder übel all unser Gepäck schon jetzt das erste Mal komplett tragen müssen. Wir wollen versuchen, durch den tiefen Schnee weiter unten zur Treppe zu gelangen. Es gäbe zwar auch weiter oberhalb eine Möglichkeit, da aber würden mich keine zehn Pferde ohne Seil und Klettergurt her bekommen, da mache ich mir schon beim Anblick fast in die Hose.
Wir versuchen es also und queren ohne Ski und mit unseren schweren Rucksäcken bepackt in das Schneefeld hinein. Mir wird mulmig, wenn ich nach links in den Abgrund weit unter mir blicke. Wow, das ist mal ein echtes Abenteuer hier. Zum Glück gehen Chris und Gitti vor, beide haben zusammen schon zahlreiche fordernde Hochtouren in den Alpen gemacht, sie wissen also, was sie tun und können auch die Risiken am Berg gut einschätzen und abwägen. Wir kämpfen uns voran, auf halber Strecke erwartet uns ein kleiner Baum, der uns ein wenig Halt gibt. Ich bin echt froh, dass die beiden Berggänger voran gehen, ich mit meiner Höhenangst und der mangelnden alpinen Erfahrung würde mir das sichere Vorangehen hier nicht zutrauen. Chris nimmt die Lage genau in Augenschein und wirkt zunehmend ratlos. Wir haben uns scheinbar in eine Sackgasse manövriert, denn hinter dem Baum fällt das Schneefeld noch steiler ab. Beim Gedanken daran dreht sich mir beinahe der Magen um. In der Planung hörte sich das alles ganz einfach an. Wir laufen dort bis zur Anhöhe und nehmen dann die Holztreppe. An deren Fuß befindet sich oberhalb der Wasserlinie eine Art Tunneleingang, in dem wir bequem biwakieren können, alles überhaupt kein Problem hieß es da, schließlich hat es Martin genau so schon einmal gemacht. Klang einleuchtend und richtig, die Realität vor Ort lässt mich aber gerade erschaudern, die Gegebenheiten haben sich anscheinend seit Martins letzter Tour hier zu unseren Ungunsten verändert.
Die Vorzeichen sind nicht gut
Wir ziehen uns laut fluchend wieder zurück auf die Anhöhe. Der Schnee reicht oftmals bis weit über die Hüfte, die Kraxelei durch den tiefen Schnee kostet insbesondere bei mir einiges an Kraft. Was für eine Scheiße gleich am ersten Tag der Tour.
So hatten wir uns alle das nicht vorgestellt. Besonders Martin ist ein wenig ratlos, er war ja schon hier, und da gelang der Übertritt auf die Treppe völlig problemlos. Heuer sind aber auch die Schneeverhältnisse völlig anders und wir haben so jetzt am späten Nachmittag des ersten Tages schon das erste größere Problem an der Backe. Wir müssen uns nun also einen anderen Plan ausdenken. Direkt den steilen Hang ohne die Treppe zu nehmen erscheint uns dabei als viel zu gefährlich. Wir haben Angst eine Lawine auszulösen. Uns bleibt also nur übrig, uns von etwas oberhalb aus gut gesichert und mit Eispickel in der Hand einzeln abzuseilen. Dazu noch das große Gepäck, sprich jeder müsste mindestens zwei Mal gehen.
Wir haben keine andere Wahl, ansonsten können wir gleich hier umdrehen und wieder nach Hause fahren. Die Anspannung steigt, die lockeren Sprüche von heute Mittag sind verschwunden. Also los, auch die Zeit sitzt uns mittlerweile etwas im Nacken, wenn wir es bis zum Sonnenuntergang bis zur Treppe bzw. zum Biwakplatz schaffen wollen, dann müssen wir langsam loslegen, auch wenn mir bei der Sache nicht wirklich wohl ist. Chris und Gitti bilden dabei die Vorhut, sie haben die meiste Erfahrung und suchen direkt nach einer Möglichkeit zur Sicherung. Vom Bau des Staudammes befindet sich zum Glück noch fest verankert eine Stahlöse in einem Felsen, der hier aus dem Schnee herausragt.
Chris steigt mit einem Eispickel in der Hand in den Hang ein und bahnt sich den Weg hinüber zur Treppe. Es geht ganz gut, lediglich die letzten drei bis vier Meter sind so steil, dass man sich dort mit dem Eispickel zusätzlich sichern muss. Ich will gar nicht daran denken, was mich gleich erwarten wird, da heißt es dann wirklich die Arschbacken zusammen zu kneifen. Zügig und schnell erreicht Chris die Treppe, ein Anfang ist gemacht. Er lädt die erste Fuhre Gepäck ab und wartet dort auf mich. Gleich bin ich dran, wohl oder übel muss ich da jetzt drüber. Es kostet mich einiges an Überwindung, ich blende die Gefahr und das Kopfkino einfach aus, fokussiere mich auf die Aufgabe. Mit viel Mut und dem Eispickel in der Hand gelingt auch mir der Übertritt. Wir beschließen, dass Chris wieder zurück geht und nach und nach das Gepäck herüber bringt, er ist einfach viel sicherer als ich in diesem Gelände unterwegs. Gitti wird ihn dabei sichern, Martin ihm das Gepäck anreichen und ich dann in Empfang nehmen. Soweit der Plan und es funktioniert auch ganz gut.
Auch Martin soll dann zu mir auf die Treppe kommen. Zweimal zögert er und geht zurück, der wegrutschende Schnee unter seinen Füßen ist ihm nicht geheuer. Im dritten Anlauf nimmt er all seinen Mut zusammen und schafft es auch herüber. Nun übernehmen wir beide die Aufgabe, das Gepäck, welches sich mittlerweile auf der schmalen Treppe stapelt, hinunter zu unserem Lagerort für die Nacht zu bringen. Wie Sherpas steigen wir einige Male die gut einhundert Meter lange und viele Höhenmeter hohe Treppe ab und wieder auf. Zwischendurch müssen wir sie auch noch mit der Schneeschaufel von hüfthohem Schnee befreien, der uns den Weg versperrt. Was für eine Plackerei!
Wir sind langsam ziemlich kaputt und es fängt allmählich an zu dämmern. Nach und nach hat Chris alles herüber geschafft, jetzt müssen wir nur noch Gitti nachholen. Das gelingt auch ohne Probleme, obwohl die Trittspur mittlerweile kaum noch Halt bietet und ziemlich rutschig geworden ist. Als wir dann zu viert ein letztes Mal die Treppe hinab steigen, sind wir alle fertig. Diese Aktion hat mehr Kraft und Willen gekostet als gedacht. Wir wissen alle, dass da noch einige Aufgaben auf uns warten, aber dass der Einstieg so schwierig werden würde, damit haben wir überhaupt nicht gerechnet. Insgeheim hoffe ich, dass das heute kein schlechtes Vorzeichen ist, ich will ja nicht unken, irgendwie schwant mir, dass da noch einiges auf uns warten wird.
Wir richten uns an der Biwakstelle für die Nacht ein. Es ist eine Art Tunneleingang aus Beton direkt neben der Staumauer, etwa fünf Meter im Durchmesser, nach zehn Metern im Berg kommt dann eine dicke LKW Plane, die den weiteren Weg in den Berg versperrt. Vermutlich ist es ein Versorgungs- oder Zugangsschacht zu dem im Berg verborgenen Tunnelsystem, das zum Staudamm gehört. Für uns ist es hier ideal, es bietet einen sicheren Schutz vor den Elementen und einen grandiosen Ausblick auf den Stausee im Mondlicht. Aber dafür haben wir kaum noch Energie, wir wollen nur noch etwas essen und in die warmen Daunenschlafsäcke kriechen, wir müssen uns erholen und schlafen, morgen früh wartet allem Augenschein nach die nächste große Herausforderung auf uns, soweit haben wir das in der Dämmerung schon erahnen können. Aber darüber möchte ich jetzt besser nicht mehr nachdenken, was für ein erster Tag!