Josten pa langs – eigentlich eine Traumtour – Teil 3
Der sechste Tag – der Aufstieg auf den eigentlichen Jostedalsbreen
„Heute gilt es!“ kommt es mir sofort in den Sinn, als ich früher als bisher auf dieser Tour gewohnt aufwache, wir haben uns für heute sogar den Wecker gestellt, damit wir nicht verschlafen. Beim Frühstück wird weniger gesprochen als sonst, die Anspannung vor diesem entscheidenden Aufstieg ist spürbar. Da wir in einem Talkessel zelten, haben wir diesmal morgens auch keine wärmende Sonne auf dem Zelt, so wie das gestern der Fall war und uns den Start in den Tag merklich angenehmer gestaltet hat.
Aber genau aus diesem Grunde stehen wir ja auch schon so zeitig auf. Wir wollen verhindern, den Aufstieg in der prallen Sonne absolvieren zu müssen, die Gefahr einbrechender Schneebrücken oder herabfallender Eisbrocken wäre ungleich höher als bei noch kalten Verhältnissen, die Schnee und Eis stabiler machen. Das Wetter scheint uns heute gewogen zu sein, es schneit nicht und die Sicht ist auch gut. Hoffen wir mal, dass sich das während des Aufstiegs nicht noch ändert. Sich mitten im Eislabyrinth bei White-Out-Bedingungen wiederzufinden, gehört nicht gerade zu meiner Lieblingsvorstellung.
Beim Packen müssen wir heute besondere Sorgfalt walten lassen, da wir zwischenzeitlich vermutlich aufgrund der Steilheit des Geländes all unser Gepäck auf dem Rücken tragen müssen. Auch legen wir direkt zu Beginn schon die Klettergurte an und halten die übrige Kletterausrüstung wie Grödel, Seil und Eispickel griffbereit. Wir werden direkt mit dem großen Rucksack auf dem Rücken aufbrechen und im Pulkaschlitten nur jeweils einen großen Packsack verstauen. So sind wir in dem steilen Gelände beweglicher und laufen nicht Gefahr, dass sich die Pulka überschlägt oder es zu steil wird, um die Pulka noch vernünftig ziehen zu können.
Beim Aufbruch bin ich etwas angespannt, da ich überhaupt nicht einschätzen kann, was uns gleich bevorstehen wird. In größerem Abstand laufen wir los, wir halten Distanz, eine Vorsichtsmaßnahme, um nicht auf einer Schneebrücke, die sich eventuell unter der Oberfläche verbergen könnte, einzubrechen. Martin geht wieder voran und quert hinein in den Hang des Småttene. Nach einigem Zickzak befinden wir uns schon in merklich steilerem Gelände. Hier gibt es eine geschlossene Schneedecke, weiter oben ist der Gletscherbruch mit den sich auftürmenden, haushohen, hellblau schimmernden Eisblöcken schon fast zum Greifen nahe. Wir wollen den Hang komplett queren und uns auf der nördlichen Seite des Gletscherbruchs einen gangbaren Weg aufwärts suchen. Dort sind wir nahe an den Felsen und man sollte dort einfacher an Höhe gewinnen können, so unsere Theorie.
Nun aber wird das Gelände rasch sehr viel steiler, wir schnallen die Ski ab und verstauen sie auf den heute sehr leichten Schlitten, die wir ja immer noch hinter uns her ziehen. Über die Schuhe streifen wir nun die Grödel, die uns dank der kleinen Zacken und Ketten unter der Sohle mehr Halt und Sicherheit in diesem Gelände geben werden. Kurz darauf erreichen wir eine Stelle in der Nähe der Felsen, auf der wir uns alle vier gefahrlos sammeln und das weitere Vorgehen besprechen können. Mir ist immer noch absolut schleierhaft, wie wir durch dieses Gewirr aus Eis und Schnee einen Weg nach oben finden sollen. Ich bin nervös, pumpe wie ein Maikäfer und total verunsichert, die ganze Situation behagt mir nicht. Vermutlich liegt das aber ganz einfach an meiner fehlenden Erfahrung in solchem Gelände. Die anderen strahlen Gott sei Dank Zuversicht und Ruhe aus, sie haben schon öfters solche Touren gemacht, wenn auch in den Alpen. Aber wenn das Gelände hier nicht alpin ist, dann weiß ich es auch nicht.
Wir entschließen uns nun für den folgenden Abschnitt am Seil als Seilschaft weiterzugehen. Wir binden uns also alle ins Seil ein und kurz darauf geht es erst richtig los für uns. Als Erfahrenste von uns bei solchen Verhältnissen übernimmt Gitti die Führung und geht voran. Danach folge ich und hinter mir gehen dann Martin und Chris. Wir haben alle weiterhin die voluminösen und schweren Trekkingrucksäcke auf, zudem ziehen wir auch in der Seilschaft jeweils unsere orangenen Pulken hinter uns her. Wir müssen also nun in der Seilschaft besonders aufpassen, dass wir uns mit den Schlitten nicht gegenseitig behindern.
Auf Anhieb findet Gitti eine gute Linie, die Schneeauflage ist groß und trägt uns sicher, langsam erschließt sich ein Weg durch die chaotische Eiswelt um uns herum. Wir scheinen unglaubliches Glück mit den Verhältnissen zu haben. Es ist zwar anstrengend und ich muss mehrfach um eine kurze Pause bitten, aber es geht ganz gut. Pausen sind eigentlich in diesem Gelände ein No-Go, zu gefährlich ist es eigentlich, hier direkt über diesem sehr spaltenreichen Bereich anzuhalten. Die kurzen Augenblicke zum Durchatmen verschaffen mir immer wieder genug Kraft, um weiterzugehen. Beim Blick zurück ins Tal stockt mir der Atem, dort wo man heute Morgen noch bis zur Stelle, an der wir gezeltet haben, sehen konnte, sieht man jetzt nur noch eine weiße Wand, schlechtes Wetter zieht nun auf. Zum Glück haben wir den spaltigsten und gefährlichsten Teil nun geschafft, die Steigung wird von Schritt zu Schritt flacher, langsam weicht die Anspannung der Erschöpfung. Im Grunde ging es bis hierher ganz gut, wir haben gar nicht so lange für die gut 500 Höhenmeter gebraucht, aber es kam mir währenddessen vor wie in Zeitlupe.
Kurz darauf wird es so flach, dass wir beschließen eine Pause zu machen und uns aus dem Seil auszubinden. Ich bin total fertig, aber auch stolz, denn wir haben es wirklich bis auf den eigentlichen Jostedalsbreen geschafft. Wir haben bisher trotzt des vorwiegend schlechten Wetters immer Glück für die entscheidenden Stellen gehabt, es hat sich immer ein Fenster aufgetan, um die Schlüsselstellen bei einigermaßen guten Bedingungen anzugehen. Manchmal ist es vielleicht doch das Glück des Tüchtigen, wir jedenfalls haben es hier hinauf relativ problemlos geschafft. Wer hätte das vorher oder heute Morgen noch gedacht? Die Anspannung weicht der Erleichterung.
Die Stärkung und Pause tut gut, langsam aber sicher finde ich wieder zu mir und bin stolz darauf, es hierher geschafft zu haben. Solche Herausforderungen sind bei mir oft reine Kopfsache, umso schöner ist es zu erfahren, dass man sie dann wirklich gemeistert hat. Das Wetter um uns herum wird immer schlechter, es zieht sich zu und die Sicht tendiert mal wieder gen null. Die schweren Rucksäcke wandern wieder zurück vom Rücken in die orange Plastikwanne, die Ski finden wieder ihren angestammten Platz unter den Skischuhen, die Grödel werden verstaut. Es ist noch relativ früh am Tag. Da wir so zeitig losgezogen sind und der Aufstieg reibungslos geklappt hat, haben wir jetzt noch die Möglichkeit ein paar Meter oder gar Kilometer auf dem Gletscher zurückzulegen. Also geht es wieder los im Gänsemarsch, auf in White-Out, das uns nur manchmal kurze Ausblicke auf die Umgebung erhaschen lässt. Wir gehen und gehen, die Monotonie hat uns wieder. Schade, dass wir hier kein gutes Wetter haben, aber sollen wir uns nach diesem Aufstiegsglück davon ärgern lassen? Nein, besser so als andersherum.
Das Gelände steigt ganz sanft an bis auf fast 1800 Meter über dem Meeresniveau, wir kommen gut voran und folgen einfach den Höhenlinien, um nicht unnötig zu hoch zu gelangen. Bei der schlechten Sicht lohnt es auch nicht, den einen oder anderen Hügel am Rande unserer Route zu erklimmen, es ist einfach aussichtslos, im wahrsten Sinne des Wortes.
Auf Höhe des Brødalsbreen bei der Position 61°45’21.0″ Nord / 7°06’23.4″ Ost (61.75584, 7.10650) entschließen wir uns, es für heute gut sein zu lassen. Unser Tagesziel haben wir erreicht, wir haben die Schlüsselstelle und den Übergang auf den Jostedalsbreen gemeistert. Die nächsten Tage sollten nun ganz entspannt werden. Die Bilder, die andere Tourengeher auf ihrer Tour über den Gletscher gemacht haben, erscheinen vor meinem inneren Auge, das reinste Vergnügen wird uns erwarten! Turglede vom Allerfeinsten! Eine beinahe arktische Eiswüste wird sich vor uns erstrecken und wir werden wie die großen Polarabenteurer durch diese Weite streifen.
Aber das ist dann ab morgen dran, heute genießen wir erst einmal unseren Erfolg, es bis hierher geschafft zu haben. Das Lager wird zügig und ohne Probleme errichtet, die Routine hat Einzug gehalten und macht den abendlichen Alltag so zu einer effizienten Sache. Nachdem wir uns eingerichtet und ein wenig bei reichlich Schokolade und anderen Leckereien ausgeruht haben, geht es daran, das Wasser für das Abendessen zu schmelzen und dabei den Tag Revue passieren zu lassen. Verdammte Axt, wir sind wirklich auf dem Jostedalsbreen!
Der siebte Tag – auf zum höchsten Punkt der Tour
Am nächsten Morgen scheint sich das Wetter etwas gebessert zu haben. Immerhin kann man nun ab und zu etwas sehen und erahnen, wie spektakulär die Aussichten bei gutem Wetter wohl wären. Als wir dann wieder aufbrechen, ist das Wetter immer noch sehr unstet, es kann sich einfach nicht entscheiden, ob es nun gut oder wieder schlecht werden soll. Uns ficht das nicht an, wir wollen heute den höchsten Punkt am Gletscher erklimmen. Der „Høgste Breakulen“ ist mit 1957 Metern die höchste Erhebung inmitten dieser weißen Wüste, sogar einige Felsen ragen dort aus dem Eis heraus.
Das Wetter heute macht den Tag zu etwas ganz Besonderem. Zwischendurch reißen die Wolken ganz kurz komplett auf, uns stockt der Atem, was für ein Anblick auf die Berge und Felsen, die den riesigen Gletscher wie steinerne Finger in einem eiskalten Griff halten und umgeben. Dann aber stapfen wir wieder durchs White-Out, folgen den Höhenlinien möglichst effizient und hangeln uns wie mittlerweile schon gewohnt von GPS-Punkt zu GPS-Punkt. Es geht immer wieder sanft auf und ab, niemals steil, aber dafür stetig. Das Wetter kann sich immer noch nicht entschließen, und so finden wir uns zwischendurch in einem überdimensionalen Schüttelglas wieder. Eine höhere Macht hat beim Anstieg zum höchsten Punkt des Gletschers einmal kräftig das große Glas geschüttelt und um uns herum stieben nun die Eiskristalle auf. Die Luft ist erfüllt von einem mystischen Glitzern, die durchbrechenden Sonnenstrahlen tauchen die Umgebung in eine goldene Atmosphäre. Sprachlos versuche ich die Szenerie mit der Kamera einzufangen, der Wind frischt indes merklich auf.
Die anderen sind schon etwas vorangegangen, und in diesen wenigen Augenblicken hat sich schon ihre Spur mit Schnee und Eis gefüllt. Es ist total verrückt, ich muss an Scott und Amundsen und all die armen Teufel denken, die sich freiwillig für Monate in eine solch lebensfeindliche und unbekannte Umgebung begeben haben. Ob sie zwischendurch auch einmal inne halten konnten, um die Aussichten zu genießen? Ich vermag mir ihre Strapazen nicht vorzustellen, das geht über meine Vorstellungskraft hinaus. Wir sind im Vergleich ja nur lausige Sofaabenteurer, aber dennoch fühle ich mich ihnen hier auf merkwürdige Art und Weise verbunden.
Das Wetter wird nun leider wieder schlechter, der kurze Glanz ist schnell vergangen und wir laufen nun im White-Out dem Gipfel unserer Überquerung entgegen. Für heute war es das mit Aussichten, nur kurz können wir noch die Felsen am höchsten Punkt durch die milchige Suppe erspähen. Wir sparen uns den Weg dorthin, ohne freie Sicht macht es einfach keinen Sinn. Also drehen wir kurz vorher ab, der Wind wird stärker, da ist es uns wichtiger, einen guten Zeltplatz zu suchen. Vielleicht ist das Wetter ja morgen wieder besser, da können wir dann unter Umständen ja auch nochmal zum Gipfel hin aufbrechen. Wir laufen im White-Out beinahe ohne Sicht einen flachen Absatz hinab, so ganz oben wollen wir nicht zelten, das wäre uns zu exponiert. Etwas weiter unten sollte es flacher werden und so finden wir auf halbem Weg zum Kvitekulen bei der Position 61°40’14.9″ Nord / 7°01’13.1″ Ost (61.67082, 7.02031) auf ungefähr 1860 Metern eine geeignete Stelle, um unsere Zelte aufzuschlagen. Beim Aufbau der Zelte müssen wir diesmal schon etwas mehr Sorgfalt walten lassen, denn der Wind nimmt beständig zu. Aber kein Problem, wir nehmen wie immer unsere Ski zur Hilfe und richten die beiden Zelte so aus, dass sie mit der Stirnseite im Wind stehen. So bieten wir den kräftigen Böen möglichst wenig Angriffsfläche und die Zelte sollten so etwas locker wegstecken. Auf eine Schneemauer, um den Wind zusätzlich vom Zelt abzulenken, verzichten wir, so schlimm ist es ja nun auch wieder nicht und morgen früh sind wir ja auch schon wieder weg, schließlich haben wir noch eine ganz ordentliche Strecke zu gehen.
Als wir uns eingerichtet und es uns zum Kochen im großen Keron gemütlich gemacht haben, fängt der Wind mit einem Mal an sich zu drehen. Verfluchter Mist, es wird im Zelt merklich lauter, die Leinen und das Außenzelt flattern nun immer stärker. Der Wind steht nun nicht mehr auf der Stirnseite unserer Zelte, sondern trifft geradewegs auf die Breitseite, genau dort, wo sie am meisten Angriffsfläche bieten. Ist halt so, denken wir uns und widmen uns wieder dem Abendessen. Die Zelte sind stabil und expeditionserprobt, das muss das Boot schon aushalten, kommt mir der U-Boot Klassiker von Wolfgang Petersen in den Sinn. Hauptsache wir sinken nicht auch auf den Grund und unterschreiten die maximale Werkstauchtiefe, auf einen ausführlichen Zeltsicherheitstest kann ich gerne verzichten.
Als wir gegessen haben und alle Kannen mit heißem Wasser für den nächsten morgen aufgefüllt haben, wechseln Martin und ich in unser Zelt. Als wir noch einmal austreten und die Zähne putzen, hat der Wind weiter an Geschwindigkeit zugelegt. Wir sorgen uns noch nicht, es ist immer noch okay, und morgen früh werden wir ja weiterziehen und wieder etwas tiefer unterwegs sein. Noch ein letzter Blick in die dunkle Nacht und den umherwirbelnden Schnee, der Reißverschluss der Tür schließt sich mit einem lauten Surren und bald darauf tauchen wir ein in unsere warmen Schlafsäcke und das Land der Träume.
Der achte Tag – vom Sturm zur Ruhe gezwungen
Am nächsten morgen ist es ziemlich laut im Zelt als ich aufwache. Verschlafen blicke ich herüber zu Martin, der rührt sich aber noch nicht. Die Geräuschkulisse verspricht nichts gutes, mir schwant schon, dass es weiter an Ungemütlichkeit zugenommen hat in der Welt, von der uns nur der dünne Nylon Ripstop Stoff trennt. Das Zelt wiegt sich stark hin und her, immer wieder schlagen Windböen auf das Zelt ein. Die Lautstärke ist beachtlich, was für ein Wetter. Ein kurzer Blick nach draußen bestätigt meine Annahme. Auch Martin rührt sich langsam und schaut mich skeptisch und verschlafen an. Sturm. Ohne Vorwarnung und ohne Sicht, dafür aber mit windgepeitschtem Schnee und hoher Intensität. Was für ein Ei hat uns der norwegische Wettergott da bloß in unser Osterkörbchen gelegt?
Es nützt alles nichts, ich muss raus und den durchgelaufenen Tee endlich wegbringen, der schon seit Stunden drückt. Bisher war ich zu faul, mich richtig anzuziehen, denn bei diesem Wetter möchte man einfach nur im Schlafsack liegen bleiben. In langer Unterhose und mit dicker Daunenjacke stehe ich kurz darauf im Sturm und erledige, was erledigt werden muss. Aber Erleichterung will sich dabei nur bedingt einstellen, heiliger Strohsack, das sieht nach einem Ruhetag aus. Die Sicht ist mehr als bescheiden, man sieht kaum herüber bis zum Nachbarzelt. Ich gehe zurück und spreche kurz mit Martin. Das Frühstück verschieben wir wohl erstmal. Auch Martin muss vor die Tür, eher unwillig macht er sich auf ins große Weiß um uns herum. Er überbringt den anderen die frohe Kunde, aber die haben beim Lärm in ihrem Zelt eh kein Auge heute Nacht zugemacht, sich schon gedacht, dass es so heute nicht weitergeht. Für sie ist es die erste Wintertour dieser Art, sie sind es nicht gewohnt bei diesen Bedingungen im Zelt zu sitzen. Die Geräusche, der Lärm und die vorherrschenden Kräfte sind enorm, ihr Vertrauen in das Zelt ist noch nicht gewachsen, sie fürchten, dass das Material reißen und das Zelt kollabieren könnte. Martin und ich haben so ähnliche Situationen schon erlebt, wissen, dass wir dem Material absolut trauen können. Es hat sich schon auf vielen Expeditionen bewährt, wir sind erstmal sicher, überhaupt kein Problem.
Nachdem wir uns erstmal wieder hingelegt haben, nehmen wir heute das Frühstück später ein, denn Eile haben wir heute gewiss nicht, ganz im Gegenteil. Als wir in unserem Müsli herumstochern und uns bei dem Lärm nur mühsam unterhalten können, brauchen wir gar nicht zu diskutieren. Die Zelte stehen einigermaßen stabil, obwohl der Wind immer noch von der Seite kommt und stetig an Kraft zu gewinnen scheint. Wir haben genug Essen und Brennstoff dabei, kein Grund in Panik zu verfallen, wir werden das heute aussitzen und uns einfach morgen wieder auf den Weg machen.
Als wir nach dem Frühstück wieder zu unserem Zelt gehen, nehmen wir die Situation in Augenschein. Die Zelte stehen wirklich sicher, auch wenn die aufkommenden Böen schon sehr an ihnen zerren. Es sieht spektakulär aus, aber unser Zelt gibt dem Zelt von Chris und Gitti etwas Schutz, wie ein Spoiler lenkt unser Helsport Svea den Wind ab. So ist es im Zelt von den beiden zwar mächtig laut, aber immerhin sammelt sich um das Keron-Zelt kein Schnee an. So soll es auch sein. Allerdings staut sich bei uns auf der windzugewandten Seite mittlerweile der Schnee, was unschön, aber nicht besorgniserregend ist. Martin und ich beschließen, dass wir unserem Zelt dennoch etwas mehr Halt geben wollen, trifft uns die Naturgewalt derzeit noch nahezu ungebremst. Also nehmen wir unsere stabilen Skistöcke sowie einige Meter dicker Reepschnur, und spannen das Zelt zusätzlich ab. Das entlastet die übrigen Leinen und beruhigt uns etwas. Die Stöcke sind aus sehr stabilem Aluminium und bald anderthalb Meter lang, sie sind sichere Anker in dieser so stürmischen Umgebung. Darüber hinaus versuchen wir, den Schnee, der sich am Zelt angesammelt hat, hinter den Stöcken in einem Abstand von gut einem Meter aufzuhäufen. Eine vernünftige Schneemauer lässt sich leider nicht errichten, dazu ist es zu stürmisch und der Schnee nicht fest genug. Aber der Wall wächst langsam und nimmt Druck vom Zelt, er leitet den Wind gut ab, bricht die Böen etwas. Unser Zelt ist lang, bestimmt fünf oder sechs Meter von einem zum anderen Ende, da ist man schon eine Weile beschäftigt, aber wir haben ja Zeit und uns nichts anderes vorgenommen für heute. Nach getaner Arbeit klatschen wir uns kurz ab und ziehen uns zurück ins Zelt, wärmen uns auf, kriechen beruhigt wieder in den Schlafsack.
Den Tag verbringen wir dösend und schlafend und dösend und schlafend. Zwischendurch hören wir Podcasts auf dem MP3 Player, trinken Tee und stärken uns mit Schokolade, Keksen und was wir sonst noch so in unseren Vorräten finden. Immer mal wieder werfen wir einen Blick nach draußen, checken die unveränderte Lage, alles beginnt wieder erneut von vorn.
Gegen Nachmittag schnappen wir uns unsere Schneeschaufeln und machen uns an die Arbeit, denn wenn das Innenzelt immer enger wird, könnte sich eventuell draußen eine größere Menge Schnee angehäuft haben. Und genau so ist es, der Graben, den wir zwischen den Skistöcken und dem Zelt ausgehoben hatten, ist längst wieder vollgeweht und randvoll mit Schnee gefüllt. Also schwingen wir die Schaufel, während der Sturm uns unentwegt versucht aus dem Konzept zu bringen. Eine Situation, wie ich sie so bisher nur aus Filmen und Erzählungen kenne.
Wir kommen nur mühsam voran, aber was muss das muss. Immer wieder ärgere ich mich nun, dass ich die Kapuze von meiner Daunenjacke zu Hause gelassen habe. Sie wäre jetzt ungemein praktisch, würde mir nun wohligen Schutz am Kopf bieten. Sie liegt aber daheim, aus Gewichtsgründen habe ich sie dort gelassen, schließlich wollten wir ja so leicht wie möglich unterwegs sein für den Fall, dass wir alles auf dem Rücken tragen müssen. Ein dummer Fehler und völlig am falschen Ende gespart, wie sich nun herausstellt.
Mit kommt noch in den Sinn, wie wir daheim in der warmen Stube zudem diskutiert haben, nur zwei statt vier Schneeschaufeln mitzunehmen, das hätte ja auch Gewicht eingespart. Gottseidank hat hier aber die Vernunft gesiegt, sonst wäre das Freischaufeln jetzt doppelt so mühsam, denn Gitti und Chris helfen uns nun. Unser Zelt fungiert mittlerweile perfekt als Windbrecher für das andere Zelt. Der Wind wird einfach abgeleitet und ihm so die Wucht genommen. Das andere Zelt steht auch gut da, kein Schnee lagert sich um ihm herum ab, so soll es sein. Allerdings sieht die Situation bei unserem Zelt ganz anders aus. Der Schneewall, den wir mittlerweile aufgehäuft haben, ist anscheinend nicht weit genug entfernt vom Zelt, er füllt sich immer wieder rasch von neuem an mit reichlich Schnee.
Normalerweise ist es im Winter ziemlich einfach, ein Zelt aufzubauen. Man sucht sich eine möglichst ebene Stelle, die vielleicht noch etwas windgeschützt ist. Das Zelt wird wie üblich aufgebaut, mit der schmalsten Seite soll es dem Wind zugewandt sein. Es reicht zumeist aus, das Zelt mit den Abspannleinen und Schneeheringen zu verankern. Die Leinen sollten schön lang sein und die Nachspannmöglichkeit sollte sich nahe beim Zelt befinden. Sind die Leinenspanner tief im Schnee verborgen, kann man sie schließlich nicht einfach nachspannen, sollte dies vonnöten sein. Man muss das Zelt auch nicht eingraben, um gegen Wind geschützt zu sein. Dies ist ein oft verbreiteter Irrglauben.
Steht das Zelt frei, wird sich dann heranwehender Schnee immer nur an den Punkten ablagern, wo die Heringe im Schnee stecken. Der Wind wird um das Zelt herumwirbeln, und es immer schön frei halten, manchmal kann man dieses Phänomen auch bei Hütten im Winter beobachten.
Damit kein Wind und somit auch kein Schnee ins Zelt gelangen können, wird der untere Teil des Zeltes von außen mit Schnee angefüllt und beschwert, das gibt zusätzliche Stabilität. Manche Zelte haben dort zudem sogenannte Snowflaps, das sind verlängerte Zeltbahnen, die man ganz einfach mit Schnee beschweren kann.
Will man einen zusätzlichen Schutz bei Sturm und Wind haben, empfiehlt es sich eine stabile Schneemauer zu errichten. Diese sollte am besten eineinhalb Meter vom Zelt entfernt sein und aus einer doppelten Reihe von Schneeblöcken bestehen, die mindestens so hoch wie das Zelt ist. Von manchen Profis erhält man auch den Tipp, die Schneemauer wie ein „T“ zu bauen. Dabei ist der Fuß des T dann der Windrichtung zugewandt. Dies soll bewirken, dass der Wind bevor er auf die eigentliche Mauer trifft, schon einmal gebrochen und abgeleitet wird. Dies soll ihm die Kraft nehmen, das Zelt ist dadurch besser geschützt.
Wir schaufeln und schaufeln, ich bin froh, dass ich mir vor der Tour eine neue Schaufel mit einem Teleskopstiel und einem extra großen Schaufelblatt zugelegt habe. Das macht die anstrengende Arbeit doch etwas einfacher. Es dauert eine ganze Weile, bis wir den Graben ums Zelt einigermaßen leergeschaufelt haben.
Beim Abendessen sprechen wir natürlich über das Wetter und die Lage. Skepsis macht sich breit, wann wir wohl wieder weiter kommen. Aber so ist das nun einmal, mit dem Wetter müssen wir uns nun irgendwie arrangieren und versuchen es zu überstehen, was sollen wir auch anderes hier oben machen? Wir sind auf uns allein gestellt, wir sind so weit ab von allem, so schnell würde uns hier oben auch niemand holen können. Selbst wenn wir den Notfallsender betätigen und um Hilfe bitten, wird wohl niemand kommen, zu stürmisch ist das Wetter, zu kompliziert wäre für die Retter der Aufstieg hier zu uns hinauf. Ich bin froh, dass wir die zuverlässigen Zelte dabei haben und es bisher doch ganz gut klappt. Und auch wenn sich so manches Mal etwas trübe Gedanken breit machen, wir haben uns das ausgesucht, da dürfen wir jetzt nicht klagen. Damit es uns in solchen Situationen nicht ganz so langweilig ist, habe ich vor der Tour „Kraftprotze“ Quartettkarten eingepackt. Also sitzen wir jetzt im großen Zelt, dick eingepackt und bei Tee, und spielen Karten mit Raupenbaggern und Muldenkippern, diskutieren über Hubraum und Pferdestärken der schweren Maschinen.
Es ist schon lange dunkel, als Martin und ich wieder rüber gehen. Uns trifft fast der Schlag, unser Zelt ist beinahe bis zum Dach im Schnee versunken. Eine wirklich unschöne Situation, der Schnee lagert sich scheinbar so schnell ab, dass wir wohl in der Nacht noch öfter raus müssen, damit das Zelt nicht gänzlich einschneit und wir womöglich im Schlaf ersticken.
Es geht von neuem los, die Schaufeln werden wieder geschwungen und um uns herum tobt der Sturm. Es dauert und dauert, quälend lange brauchen wir, um einigermaßen voranzukommen. Als wir den windzugewandten Graben wieder freigeschaufelt haben, können wir uns zumindest kurze Pausen im Schatten des Schneewalls gönnen. Dann geht es wieder ins Zelt, was für eine Plackerei. Zum Glück ist es nicht wirklich kalt, nur eine Handvoll Grad unter Null, ansonsten hätten wir da draußen im Sturm richtig viel Freude am Windchill und der sich so verstärkende Kälte im Gesicht.
Wir legen uns hin, es wird wenig gesprochen, langsam wirkt sich die Sache mental doch ziemlich erschöpfend aus. Ich bin das erste Mal in so einer krassen Situation, weiß nicht, was mich noch erwarten wird, ein merkwürdiges Gefühl.
Gegen spät am Abend wiederholt sich dann das Prozedere, ob wir wollen oder nicht, denn der Schnee drückt die Zeltseiten immer näher an uns heran, der Eingang ist fast bis zur Oberkante zugeweht. Der Sturm ist stärker denn je, wir können uns nur brüllend in der Dunkelheit verständigen. Meine Skibrille beschlägt andauernd, es ist ein wahrer Kampf, den Schnee wegzuschaufeln und das Zelt wieder zu befreien. Eine richtige Sisyphusarbeit, ohne Aussicht auf ein Ende für uns. Mehrmals denke ich, es muss wie im Schützengraben sein, denn duckt man sich hinter den Schneewall, ist es plötzlich komplett still, aber wehe, man steckt den Kopf heraus, dann trommeln Schneeflocken auf einen ein und der Lärm ist unglaublich.
Völlig fertig von der stundenlangen Arbeit kriechen wir wieder in die Daunentüten. Wir wollen während der Nacht immer mal wieder gucken, wie weit der Schnee das Zelt wieder in der Umklammerung hält, aber ich bezweifle, dass wir nach diesen Anstrengungen zwischendurch vor dem Morgen aufwachen werden. Wir haben getan, was wir konnten, von nun an sind wir Passagiere in unserem winzig kleinen U-Boot im großen weißen Meer um uns herum, nur ein Millimeter dünner Nylonstoff beschützt uns von nun an im Schlaf. Gute Nacht in die Welt da draußen – ob sich die Leute daheim wundern, warum wir unsere Position, die ich an jedem Abend per SPOT Sender übermittele, nicht verändern?
Der neunte Tag – immer noch gefangen im Sturm
Es kommt wie es kommen musste, wir sind beide völlig fertig komplett eingeschlafen, während der Nacht nicht aufgewacht. Nur ganz dumpf dringt am Morgen etwas Helligkeit in unser Zelt, von Licht kann dabei keine Rede sein. Es stürmt scheinbar immer noch, nur dringen die Geräusche nur sehr dumpf an mein Ohr. Bei mir schrillen die Alarmglocken, ich fasse an den Zeltstoff neben mir, der buchtet sich stark ins Innenzelt aus und ist hart wie Beton. Ein Blick zum Eingang genügt und ich bin sehr schnell sehr wach. Die Schneemassen haben uns eingeschneit, wir müssen schnell handeln, selbst die Lüfter sind beinahe komplett zu.
Als wir angezogen sind und uns in voller Montur den Weg nach draußen bahnen, erblicken wir schon bald das ganze Ausmaß. Zuerst muss ich lachen ob des Anblicks, den mir das Zelt bietet, doch der Spaß gefriert mir bei dem Wetter schnell im Gesicht, das hätte auch ins Auge gehen können heut Nacht. Ich verdränge die Gedanken und mache mich mit Martin erneut ans Werk, der Sturm entlässt uns nicht so schnell aus seinen Fängen. Es dauert Ewigkeiten, bis wir das Zelt wieder soweit frei haben, dass man sich guten Gewissens im Inneren ausruhen kann. Nach der ganzen Buckelei ist es beinahe windstill im Zelt, kein Wunder, türmt sich der Schneewall um uns herum doch beinahe anderthalb Meter auf. Mittlerweile steht unsere Behausung in einem tiefen Loch, selbst unsere langen Skistöcke sind komplett verschwunden, wo die Pulkaschlitten einmal lagen, das kann ich nur mutmaßen. Das andere Zelt steht immer noch relativ frei, es wird nicht zugeweht, wir geben ihm Windschutz. Allerdings ist es dort unglaublich laut. Ich weiß nicht was mir lieber wäre, beides ist auf eine eigene Art unschön.
Ein Gutes hat die hohe Schneemauer bei uns, die jetzt frisch abgeteuft ist: man kann es wagen, sein Geschäft zu verrichten, ohne im Sturm davon getragen zu werden. Es ist nicht schön, aber gestern mussten wir es uns komplett verkneifen, es ergab sich einfach nicht, während des Sturms die Hose komplett herunterzulassen. Es ist wie es ist, also hockt man sich neben das Zelt und macht in den Graben. Wohin soll man auch gehen? Es ist der einzige Ort im Umkreis von Kilometern, an dem es einigermaßen windstill ist. Nur bei der nächsten Runde Schaufeln muss man aufpassen, was man tut. Aber die Erleichterung ist groß, die eher unappetitlichen Seiten, wenn man so lange im Zelt festhängt.
Da es weiter ohne Unterlass stürmt, werden wir noch einen Tag hierbleiben, weiterzugehen steht nicht einmal im Ansatz zur Disposition. Heute fangen wir dann beim Frühstück an, die Portionen zu rationieren und über den Tag weniger zu essen. Wer weiß, wie lange wir noch hier festhängen. Ein komisches Gefühl, sich beim Essen einschränken zu müssen. Ansonsten gleicht der Tag dem von gestern, es ist wie in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ – ausruhen, schlafen, ausruhen, schlafen, Podcasts hören, Karten spielen, Tee trinken, und zwischendurch das Zelt freischaufeln. Ein Osterwochenende, wie man es sich schlechter nicht vorstellen könnte. Da nützen auch die Osterleckereien nichts, die Martin aus seinem Lebensmittelbeutel hervorzaubert. Die Schaumeier sind steinhart gefroren, wir beißen uns an ihnen beinahe die Zähne aus, so wie wir uns gerade auch am Jostedalsbreen abmühen. Jeder von uns wäre nun vermutlich gerne zu Hause bei der Familie, wie muss es da bloß den frühen Polarabenteurern wie Shackleton auf ihren entbehrungsreichen Touren ergangen sein?
Der zehnte Tag – ein ungewisser Aufbruch
Die Nacht war wenig erholsam, spät am Abend haben wir noch einmal das Zelt freigeschaufelt, nur damit es am Morgen wieder beinahe komplett zugeweht war. Fluchend stehen wir auf und versuchen die Lage zu checken. Die Tür ist wieder beinahe bis oben hin zu, vorsichtig drücken wir den Schnee zur Seite. Es scheint ein wenig nachgelassen zu haben, aber ob das ausreicht um losgehen zu können?
Beim Frühstück diskutieren wir, wie es weiter gehen soll. Das Wetter sieht nicht mehr so übel aus, obwohl immer noch White-Out und starker Wind vorherrschen. Wir alle sind langsam etwas ungeduldig, hilflos im Zelt zu sitzen ist irgendwann doch sehr erschöpfend. Also entschließen wir uns, es zu wagen. Es sieht machbar aus, der Wind ist merklich weniger geworden. Dennoch ist mir etwas unwohl dabei, müssen wir doch eine Stelle des Gletschers passieren, die nur ungefähr einen Kilometer breit ist. Sollten wir uns dort in der weißen Suppe verlaufen, könnte das ernsthafte Konsequenzen haben, denn in den Randbereichen fällt der Gletscher jeweils steil ab, dort möchte man nicht hinein geraten, wenn man nicht vom Gletscher fallen möchte. Und wenn wir erst einmal dieses schmale Stück in Angriff nehmen, sollten wir es auch tunlichst ganz überqueren, denn dort zu zelten könnte noch ungemütlicher werden, als es in den letzten Tagen hier eh schon war. Da wir aber nicht wissen, wann es wirklich viel besser wird, sollten wir die Chance heute nutzen, gar keine Frage. Gewissenhafte Orientierung ist heute dann das A und O, da darf uns kein Schnitzer unterlaufen.
Nach dem Frühstück heißt es dann erst einmal die Schneeschaufeln zu schwingen. Wir müssen die Zelte ausgraben. Was an normalen Tagen etwa in einer Stunde erledigt ist, nimmt heute bald drei Stunden in Anspruch, denn die Schneemassen insbesondere um das Helsport Zelt sind enorm. Ein Problem dabei ist, dass wir nicht mehr genau wissen, wo wir unsere Pulkaschlitten zu Beginn des Sturms abgelegt haben. Und so schaufeln und schaufeln wir und durch eineinhalb Meter hohen Schnee, der beinahe hart wie Beton ist, bis wir die Schlitten endlich gefunden haben. Das selbe Spielchen bei den Skistöcken, die Martin und ich als zusätzliche Sicherung eingesetzt haben. Es dauert und dauert, bis wir die vier langen Aluminiumstöcke endlich ausgegraben haben. Immer wieder machen wir Pausen, es ist einfach richtig anstrengend. Und da wir uns nunmal entscheiden haben, loszulaufen, müssen wir es jetzt auch durchziehen. Irgendwann haben wir es wirklich geschafft, es hat eine kleine Ewigkeit gebaucht und viel Kraft gekostet. Nun aber sind die Schlitten gepackt, nur noch die Zelte müssen verstaut werden. Bevor wir die Zelte komplett abbauen, nutzen wir alle noch einmal die Chance, einigermaßen geschützt und entspannt unser Geschäft in der Apside zu verrichten. Dieses Thema ist auf Wintertouren immer ziemlich speziell und man ist froh über jede Möglichkeit, das ganze einigermaßen entspannt hinter sich zu bringen. Auch wenn es vielleicht unappetitlich erscheinen mag, so ist es nun einmal auf einer Wintertour. Wir sind sicherlich nicht die ersten, die das machen, nicht umsonst nehmen viele Leute gerne ein Zelt mit zwei Apsiden auf eine Wintertour, wer weiß schon, wie stürmisch das Wetter werden wird, dann kann man eine Apside auch fürs Geschäftliche nutzen. Manchmal ist angewandter Pragmatismus im Winter eben Trumpf.
Nun aber ist alles erledigt, alles verstaut und fertig zum Abmarsch. Wir sind schon spät dran, schauen wir einfach mal, wie weit wir im White-Out kommen werden. Wir sind kaum losgegangen, da frischt der Wind wieder auf. Wir setzen unsere Skibrillen auf und ziehen die Kapuzen der Jacken enger und tiefer ins Gesicht. Heute gilt es, da gibt’s kein Jammern und kein Vertun. Unsere Karawane setzt sich in Bewegung, Martin sagt die Richtung und den Kompasskurs an. Wer hinten läuft, versucht die anderen beim Kurshalten zu unterstützten und zur Not per Zuruf einzugreifen.
So stapfen wir also durch das weiße Nichts um uns herum, die Sicht ist bescheiden und durch die Skibrillen ist es auch nicht besser, man ist schon froh, die Konturen des Geländes und den Vordermann zu sehen. Hinzu kommt die unglaubliche Geräuschkulisse, die einen ständig begleitet. Der Wind zerrt dermaßen an der Kapuze, dass man absolut nichts anderes versteht, es ist unglaublich laut. Mir gefriert zudem der Bart zu einem riesigen Eisklumpen, die feuchte Atemluft lagert sich rund um den Mund ab. Der ganze Tag wird von Zwängen und Selbstmotivation geprägt, immer wieder denke ich, was ich hier mache und wie ich hier wieder heraus komme. Ich möchte jetzt bei meiner Freundin mit einem heißen Kaffee gemütlich auf dem Sofa sitzen und nicht so einen haarsträubenden Stunt hinlegen. Vielleicht ist das hier doch eine Nummer zu groß für mich, jedenfalls fühle ich mich gerade ziemlich klein und verletzlich, ein mieses Gefühl.
Nach einer Stunde machen wir eine kurze Pause, niemand hat Lust, viel zu reden. Mühsam zwinge ich mich, eine Kleinigkeit zu essen und etwas zu trinken. Rasch brechen wir wieder auf, die Pause war kaum der Rede wert. Wortlos und gefangen im tobenden Sturm um uns herum geht es weiter. Der Wind drängt uns immer wieder vom Kurs ab, ständig müssen wir korrigieren, wir laufen große Umwege, ohne es verhindern zu können. In den kurzen Pausen reden wir nur noch über die Navigation, irgendwie hat es sich aus der Gruppe heraus ergeben, dass wir nur noch weiter wollen, um unser Ziel hinter der schmalen Passage zu erreichen. Keiner drängt mehr darauf, sich länger auszuruhen, sich zu stärken und Kräfte zu sammeln, der Fokus liegt nur noch auf dem Tagesziel, der Wind zerrt an uns und der Schnee wirbelt um uns herum, wir laufen durch ein riesiges Schüttelglas in ewiger Dämmerung, das andauernd kräftig durchgerüttelt wird. Laufen, immer weiter laufen, es wird zum Mantra.
Irgendwann geht es abwärts, immer steiler abwärts. „Gott sei dank“ denke ich, wir haben das Schmalstück passiert, jetzt nur noch ein wenig an Höhe verlieren und wir haben es geschafft. Da es immer steiler wird, schnallen wir die Ski ab, irgendwas scheint nicht zu stimmen. Die Pulkas überschlagen sich immer wieder, so steil ist es nun. Von Gittis Pulka löst sich eine Isolierkanne und schießt mit einem Affenzahn den Hang hinab, verschwindet in Sekundenbruchteilen im großen Weiß.
Martin zerrt die Karte hervor, wir holen das GPS mit der topographischen Karte hervor. Plötzlich schaut mich Martin mit großen Augen an und brüllt: „ So eine Scheiße! Wir haben nicht auf die Uhr geachtet, es wird bald schon dunkel!“ Panik steigt in mir auf. Wir versuchen unsere Position auf der Karte zu finden und dann trifft uns beinahe der Schlag: Wir haben uns vom starken Wind viel zu sehr an den Rand des Gletschers drängen lassen und laufen geradewegs dem Abgrund entgegen, bald fällt das Gelände richtig steil ab! Wir sind am Rande des schmalen Stücks, genau dort, wo wir nie hin wollten, genau dort, wo wir niemals hätten hinlaufen dürfen!
Nun muss eine schnelle und vor allem pragmatische Lösung her, doch leichter gesagt als getan, der Schnee wirbelt umher, der Wind zerrt an uns und nun wird es bald schon dunkel um uns herum sein. Es gibt nur eine Lösung, wir müssen so schnell wie möglich wieder an Höhe gewinnen und einen Platz am Hang finden, auf dem wir einigermaßen sicher unser Zelt aufstellen können. Laut Karte wird es weiter oben flacher, wir müssen es einfach probieren, haben keine andere Wahl. Als wir die schweren Schlitten wieder bergan ziehen, verlassen mich beinahe die Kräfte. Ich habe nach dem Frühstück heute lediglich einen Riegel gegessen, das rächt sich nun auf schmerzliche Weise. Neben mir läuft Martin, wir brüllen uns an, ich frage ihn, was wir machen, wenn das mit dem Zelt nicht klappt: „Sollen wir nicht lieber eine Schneehöhle graben?“
„Hast du schon einmal eine gegraben? Das dauert mindestens zwei oder drei Stunden! Die Zeit haben wir nicht! Wir müssen versuchen, das Zelt aufzubauen!“ Ich bekomme einen dicken Kloß im Hals, das ist vermutlich der Augenblick, an dem es in Unglücksgeschichten anfängt schief zu laufen.
Es hilft nichts, wir kämpfen uns weiter bergan. Tatsächlich finden wir bei der Position 61°36’27.1″ Nord / 6°49’22.2″ Ost (61.60754,6.82283) eine Stelle, die einigermaßen für ein Zelt geeignet wäre. Da es immer noch stark stürmt, müssen wir eine Art von Schneemauer oder was auch immer bauen, damit wir das Zelt einigermaßen geschützt aufbauen können. Nur wie? Bei dem Sturm ist es nahezu unmöglich, Schnee aufzuschichten, er wird sofort vom Wind fortgerissen.
Mir kommt eine Idee, keine Ahnung ob sie funktionieren wird. Wir nehmen vier Ski und stecken sie in den Schnee, auf der windzugewandten Seite stellen wir zwei unserer Pulkas so auf, dass wir eine Art Spoiler von ungefähr 60 Zentimetern Höhe erhalten. Davor sammelt sich sofort der Schnee und wir erhalten eine Art improvisierter Schneemauer. Nun müssen wir das Zelt aufbauen. Ohne groß zu diskutieren ist klar, dass wir nur das größere der beiden Zelte aufstellen, dass muss heute einfach reichen, wir müssen uns da halt zu viert hinein quetschen. Martin kennt das Zelt in und auswendig, so gelingt der Aufbau auch unter diesen Bedingungen, wenn es auch etwas länger dauert. Als das Zelt endlich steht und verankert ist, setzt die Dunkelheit ein. Wir schaffen unser Zeug ins Innere, wir wollen nur noch raus aus dem Sturm. Im Inneren türmt sich dann die Ausrüstung von uns allen, es dauert, bis wir uns einigermaßen sortiert und eingerichtet haben. Gesprochen wird derweil kaum, jeder ist mit sich und seinen Gedanken beschäftigt, ich blicke in müde Augen. Wir haben es irgendwie geschafft, sind aber alle total fertig und froh, nun einigermaßen sicher im Zelt zu liegen. Verdammter Mist, ich will nicht mehr, das war heute mehr als ich erleben möchte, mir reicht es mit Abenteuer. Ich versuche noch, mein Handy zu starten und mich Zuhause zu melden. Hier gibt es tatsächlich Empfang, allerdings bin ich so fertig, dass ich drei Mal den falschen PIN eingebe, das gibt mir den Rest, ich will nun noch weg von hier.
Heute Abend fällt das Abendessen aus, die Küche bleibt kalt, niemand hat mehr Lust darauf, groß Schnee zu schmelzen und zu kochen, es gibt lediglich Schokolade und ein paar Nüsse. Immerhin kann Martin noch mit seinem Telefon das Wetter checken. Auch morgen wird es stürmen, danach ist dann allerdings ein super Tag mit Sonnenschein und Windstille vorhergesagt. Mit der Gewissheit, dass wir morgen wieder eine Zwangspause einlegen müssen, geht es kurz darauf in den Schlafsack. Wir liegen hier im Zelt wie die Ölsardinen, eng an eng zusammenquetscht, aber es ist sicher und warm, das reicht mir für den Augenblick.
Der elfte Tag – erneut gefangen im Zelt
Wie vorher gesagt bringt der nächste Morgen erneut schlechtes Wetter, wir harren aus im Zelt. Es ist eng, es macht keinen Spaß und meine Laune ist nicht besonders gut. Die Zeit will nicht vergehen, der Tag zieht sich elendiglich in die Länge. Zwischendurch gehe ich vors Zelt, um ich zu erleichtern. Nur einen winzigen Augenblick reißen die Wolken um uns herum auf und geben einen Ausblick auf das preis, was uns gestern beinahe erwartet hätte: Von unserem Zeltplatz kann man bis hinunter ins Tal gucken, wir wären gestern wirklich beinahe ins Verderben gelaufen. Mir dreht sich fast der Magen um, wir haben ungeheures Glück gehabt.
Der zwölfte Tag – endlich Sonnenschein und Traumwetter
Heute gilt es, das ist beim Blick am Morgen aus dem Zelt rasch klar. Der Wind hat sich gelegt und strahlender Sonnenschein mitsamt blauem Himmel erwartet uns draußen. Wir sind erleichtert, wollen wir doch heute über den südwärts führenden Flatbreen Seitenarm des Gletschers bis zur gleichnamigen Hütte gelangen. Das ist eine lange Strecke, aber bei Verhältnissen wie heute durchaus machbar. Also machen wir uns bald nach dem Frühstück auf, es gilt keine Zeit zu verlieren und das gute Wetter auszunutzen.
Man mag kaum an die zurückliegenden Tage denken, wenn man das Prachtwetter heute erlebt. Es ist wie im Bilderbuch, wir kommen gut und schnell voran, passieren rasch den markanten Punkt „Bings Gryte“ – es läuft einfach wie am Schnürchen. Der Tag heute lädt ein, sich zu sammeln und die letzten Tage zu verarbeiten. Lange unterhalte ich mich mit Martin über die Ereignisse dieser Tour, wir üben Manöverkritik, versuchen erste Rückschlüsse zu ziehen, was wir vielleicht falsch gemacht haben.
Das Wetter ist wirklich versöhnlich, viel besser kann es kaum ein, wir können uns vor Sonne kaum retten, kramen die Sonnencreme hervor, die tief im Rucksack die letzte Woche verbracht hat. Die Abfahrt über den Flatbreen ist fast wie eine Talabfahrt in einem alpinen Skigebiet, wir kommen unglaublich schnell voran, es macht wahnsinnig viel Spaß hier abzufahren.
Langsam läuft der Gletscher aus, wir müssen uns nun weiter rechts halten, ansonsten wird es zu steil und zu spaltig. Leichter gesagt als getan, wir tun uns schwer den richtigen Weg durch das auch hier teils sehr spaltige Gelände zu finden. Aber es gelingt, auch wenn wir einige Male wieder zurück gehen und ausprobieren müssen. Die Schneebrücken halten, wir kämpfen uns langsam vor zur Hütte. Gegen Nachmittag erreichen wir die Faltbrehytta dann endlich, die sich wie ein Adlerhorst hoch oben über dem Tal an den Fels schmiegt. (Wie der Gletscher an dieser Stelle im Sommer aussieht, dass kann man sich an dieser Stelle auf dem ersten Foto ansehen.)
Der Blick ist schlicht atemberaubend, man hat eine gigantische Aussicht ins Tal bis weit über den Fjærlandsfjorden. Was für ein Platz für eine Hütte, einfach unglaublich. Schnell ist die Tür freigeschaufelt und wir nehmen die Hütte in Besitz. Es war schon lange niemand mehr hier, leider ist beinahe auch kein Feuerholz mehr da, also sparen wir dies auf und setzen uns in die Sonne. Wir tanken Energie und überlegen, wie es morgen weiter gehen soll. Den Abstieg heut noch zu machen, das wäre zu viel, wir würden es vermutlich nicht rechtzeitig nach unten schaffen. Zudem ist der steile Hang, über den wir absteigen müssen, den ganzen Tag schon der Sonne ausgesetzt gewesen. Uns ist das Lawinenrisiko zu groß, wir wollen es morgen in aller Herrgottsfrühe angehen.
Wenn alles gut geht sollte der Abstieg über die 1000 Höhenmeter nicht länger als zwei Stunden dauern, dann könnten wir eventuell noch den Bus von Fjærland nach Stryn und weiter Pollfoss zum Auto zurück schaffen. Klingt gut, das wäre mal ein Plan. Aber jetzt heißt es erst einmal wieder Kräfte zu sammeln und sich auf den Abstieg morgen vorzubereiten, nur noch dieses eine Hindernis. Hoffen wir mal, dass uns nicht wieder irgendwelche unliebsamen Überraschungen erwarten.
Der dreizehnte Tag – ein ganz einfacher Abstieg
Es ist fünf Uhr in der Früh und ich habe kaum geschlafen. Ich bin müde, angespannt und nervös. Aber gleich muss ich funktionieren, wir müssen gleich funktionieren, da gibt es kein Vertun. Mechanisch schäle ich mich aus meinem Schlafsack und blicke in ebenso müde Augen. Es wird nur wenig gesprochen, jeder versucht irgendwie in den Tag zu starten. Draußen ist es noch finster und in der Hütte arschkalt. Wir packen beinahe wortlos unsere Sachen zusammen, sprechen leise darüber, wie wir unsere Rucksäcke möglichst so packen, dass alles hineinpasst. Denn so wie es aussieht, wird es beim Abstieg einige Stellen geben, bei denen wir alles, aber auch wirklich alles was wir dabei haben, auf dem Rücken tragen müssen. Wir können ja nur den ersten steilen Teil des Abstiegs einsehen, aber wir rechnen fest damit, dass wir weiter unten über einen großen Lawinenkegel absteigen müssen. Dort wird es unmöglich sein, den Schlitten auch nur einen Meter weit beladen zu ziehen, die Eis- und Schneebrocken dort werden sich vermutlich zu einem chaotischen Labyrinth auftürmen.
Aber egal, wenn alles gut läuft, sind wir in zwei Stunden unten und schaffen eventuell sogar noch den Bus nach Stryn. Ein Stoßgebet noch und dann geht es los. Wir halten uns von der Hütte aus gesehen rechts, dort ist es weniger steil. Nun ja, weniger steil ist immer noch eine Sache der Definition. Die beiden Erfahrenen Chris und Gitti gehen voran, wir müssen zuerst einen Hang von vielleicht 50 Metern hinab. Die Pulka lassen wir dabei talwärts gleiten und wir gehen auf allen vieren mit dem Gesicht zum Hang Schritt für Schritt nacheinander hinab. In den Händen haben wir unsere Skistöcke, die wir quer halten und uns so im Schnee mehr Halt verschaffen. Der schwere Schlitten zerrt an unseren Zuggurten, aber es geht, sogar ganz gut geht es. Ich bin ziemlich erleichtert, als es wieder flacher wird. Ab und an breche ich bis über die Hüfte durch die obere Schneedecke ein, mir bleibt jedes Mal beinahe das Herz stehen, aber es sind nur kleinere Hohlräume, die einem hier das Leben schwer machen wollen. Dann erblicke ich in der grauen Dämmerung, was uns als nächstes bevor steht: Na Prost Mahlzeit!
Vor uns liegt ein v-förmiger Einschnitt, durch den es für uns abwärts gehen soll. Eigentlich nicht so schlimm, wäre er schön mit Schnee gefüllt, wäre es dort wie auf einer Talabfahrt im Skigebiet für uns. Ist es aber nicht. Es ist komplett angefüllt mit einem Lawinenkegel. Es türmen sich große Eisbrocken vor uns auf, die Zwischenräume angefüllt mit losem Schnee. Und so müssen wir den Tatsachen ins Auge blicken, das wird alles viel schwieriger als gedacht. Von nun an müssen wir wohl oder übel unser Gepäck schultern, beim Anblick vor mir keine schöne Aussicht. Da ich als letztes den Abstieg angetreten habe, sind die anderen schon ein Stückchen weiter gegangen. Sie sind schon beinahe aus meinem Sichtfeld verschwunden. Kein schönes Gefühl, aber warum sollten sie auch auf mich warten? Der Weg ist vorgegeben, von nun an muss jeder erstmal selbst mit seinem Gepäck klarkommen. Und so versuche ich mein Gepäck irgendwie komplett am Rucksack zu verstauen. Ich sehe aus wie ein Sherpa im Himalaja, das Gepäck ist unförmig groß mit Spanngurten irgendwie zusammengebunden. Die Pulka führe ich an der Zugleine neben mir her, zerre sie einfach über die Eis- und Schneebrocken, kaputt kann daran sowieso nichts gehen. Langsam wird es hell, ich schwitze mich kaputt und meine Brille beschlägt. Ich fühle mich überhaupt nicht wohl, meine Komfortzone ist gerade unendlich weit weg. Als ich losgehen will mit der großen Fuhre auf dem Rücken rutsche ich aus, gleite ohne zu bremsen einen vereisten Hang über einige Meter hinab. Mit schlägt das Herz bis zum Hals, ich versuche irgendwie zu bremsen und bleibe in einem Schneeloch hängen. Ein stechender Schmerz durchfährt mein Knie, als ich endlich zum Stehen komme. Heilige Scheiße! Was mache ich bloß hier?
Unflätige laute Flüche hallen durch das Tal abwärts. Ich brülle mir meinen Frust und den Schmerz von der Seele, was für eine beschissene Situation. Die anderen sind schon außer Sicht, kämpfen gerade vermutlich selbst mit dem Abstieg. Ich kann es ihnen nicht verdenken, jeder will hier nur so schnell wie möglich heraus. Langsam fange und sammle ich mich, kämpfe mich aus dem Schneeloch heraus und versuche herauszufinden, ob irgendetwas in meinem Knie kaputt gegangen ist. Es schmerzt zwar, scheint aber zu gehen. Glück gehabt. Ich richte mich wieder auf und gehe vorsichtig weiter. Was soll ich auch machen? Nun heißt es die Arschbacken zusammenzukneifen, da muss ich jetzt einfach durch. Wie in Trance strauchele ich im Schneckentempo abwärts, mühe mich weiter ab mit der störrischen Pulka, die mich andauernd behindert. Am liebsten würde ich das beschissene Teil einfach hier zurücklassen, aber weiter unten brauche ich es ja noch. Also zerre und werfe ich es hinter mir her. Ich beschimpfe dieses orangene Ungetüm aufs Schlimmste, es wird zu meinem Blitzableiter, gibt Gottseidank keinerlei Wiederworte.
Jeder Schritt schmerzt, meine Brille ist aufgrund der Anstrengung weiterhin andauernd beschlagen, ich Trottel verzichte darauf, mich weniger warm anzuziehen, ein großer Fehler. Denn so erkenne ich kaum, was vor mir liegt. Entsprechend langsam komme ich voran. Der Gletscherbruch macht eine leichte Linkskurve, endlich kann ich das vermeintliche Ende des Eischaos um mich herum erkennen. An dieser Stelle soll eigentlich ein Fahrweg aufs uns warten, den wir dann ganz einfach mit Ski abfahren wollten. Ich entdecke dort Martin, der wohl schon eine ganze Weile an dieser Stelle auf mich wartet. Die anderen kann ich nicht erblicken. Aber das ist mir jetzt erstmal egal, denn es gilt noch ein ganzes Stückchen abzusteigen. Einige Flüche weiter ist Martin bereits in Rufweite. Allerdings trennt uns noch ein eiskalter Bach, den ich noch überwinden muss. Kurz bevor ich das eiskalte Wasser überqueren will, breche ich erneut durch die löchrige Schneedecke. Wieder durchfährt mich ein stechender Schmerz, nun aber im anderen Knie. Ich schreie und fluche wie ein Rohrspatz. Ich will einfach nicht mehr, kann das nicht endlich mal aufhören? Bitte!
Wieder rappele ich mich auf, wuchte mich mühsam aus der eisigen Umklammerung heraus. Auf wackeligen Knien überquere ich den Bach und stehe endlich vor Martin. Ich schmeiße mein Gepäck fluchend zu Boden, setze mich völlig fertig auf meinen Rucksack, muss mich sammeln. Martin sieht ebenfalls ziemlich fertig aus, so hatten wir uns das nicht vorgestellt. Langsam komme ich wieder zu mir, frage ihn, wo der ersehnte Fahrweg und die anderen sind?
Tja, sagt er, der Fahrweg, der wurde vom Bach unterspült und auf einer Länge von zweihundert Metern weggerissen. Gitti und Chris suchen gerade einen Alternativweg entlang des von Erosion gezeichneten Bachbettes. Fassungslos blicke ich ihn mit leeren Augen an. „Du willst mich verarschen, oder?“ entgegne ich ihm, weiß aber im selben Augenblick, dass das kein Spaß sondern sein voller Ernst ist.
Wir versuchen auf der Karte einen Ausweg zu finden, gehen kurz den noch intakten Teil des Weges hoch, sehen aber rasch ein, dass wir irgendwie diesen Abschnitt überwinden müssen, es geht einfach nicht anders. Also packen wir unsere Sachen so, dass wieder alles am Rucksack befestigt wird, die anderen beiden kommen gerade ohne ihr schweres Gepäck zurück, sie haben eine Möglichkeit bis zum Fahrweg gefunden. Was sie berichten, stimmt mich nicht gerade optimistisch, aber es gibt keine Alternative. Wir wuchten unseren riesigen unförmigen Rucksack auf den Rücken, ich falle fast wieder um, kann mich gerade noch so abfangen. Meine Güte, was ein Schlamassel. Zuerst muss ich erneut den Bach überqueren, Martin ist schon etwas voran gegangen. Als sich auf der anderen Seite auf einem kleinen Absatz kurz innehalte, breche ich erneut durch die Schneedecke. Mir wird kurz schwarz vor Augen, meine Knie schmerzen höllisch. Völlig frustriert lege ich den Rucksack ab, so werde ich es nicht allein über das glitschige und steile Bachufer zum Weg schaffen, das ist mir sofort klar. Ich will ja, aber es geht einfach nicht, mir fehlt die dazu nötige Stabilität in den Beinen, ich kann das große Gewicht auf dem Rücken so nicht abfangen, keine Chance, Die anderen kommen zu mir, wir beratschlagen, was zu tun ist. Ich kann nur ohne großes Gepäck diesen kritischen Abschnitt meistern, es geht einfach nicht anders. Als ich um Hilfe bitte, komme ich mir total dämlich vor, ich schäme mich beinahe dafür, ich bin halt nicht der krasse Abenteurer, sondern sehne mich im Augenblick nach meinem zu Hause und meiner Familie, will einfach nur noch ganz weit weg von hier.
Es nützt nichts, die anderen geben mir Hilfestellung und werden mein Gepäck mit übernehmen. Mir ist schlecht, ich will nicht von anderen abhängig sein und sie ausbremsen, aber hier kommen wir nur gemeinsam heraus. Und so nehme ich vorsichtig den Weg, den die anderen vorgehen. Es geht über glitschige, mit Schnee bedeckte Fels- und Geröllbrocken, immer das eiskalt glucksende Wasser steil unter mir. Mühselig kommen wir voran, ganz am Schluss muss der Bach noch einmal überquert und ein kleiner steiler Hang aus seinem Bett hoch erklommen werden. Ich bin den anderen unendlich dankbar für ihre Hilfe, ohne sie wäre ich da nicht mehr heraus gekommen. Der von uns angepeilte Bus ist natürlich längst weg, wir haben bis hierher schon über vier Stunden gebraucht, alles war viel kraftraubender und komplizierter als gedacht.
Nun stehen wir also auf dem Fahrweg. Aber gemütlich auf Ski abfahren is nicht, wir müssen die schätzungsweise zwei Kilometer bis zur Straße wohl durch den dünnen Schnee laufend bewältigen. Wunderbare Aussichten, aber wiedermal haben wir keine andere Wahl. Also wandern die Rucksäcke in die Pulka, die Ski und Stöcke obendrauf. Andauernd breche ich beim Abstieg durch den Schnee, jedesmal durchzuckt mich ein stechender Schmerz, mir geht es echt beschissen, ich will nur noch auf die Straße, in ein Hotel, nach Hause. Jeder kämpft nun wieder für sich, jeder zerrt seinen Schlitten abwärts, Spaß und Freude sind längst nicht mehr unsere Begleiter. Hinter jeder Biegung hoffe ich, die vermaledeite Straße zu erblicken, werde ein ums andere Mal enttäuscht. Die Pulka macht derweil was sie will, bleibt ständig in irgendwelchem Gestrüpp oder umgefallen Bäumen hängen. Es fällt mir schwer, nicht vollends die Fassung zu verlieren, mich nicht einfach in den Schnee zu setzen und loszuheulen. Aber Stolz und Wille obsiegen, ich will hier nicht kampflos aufgeben, nicht auf den letzten Metern. Irgendwann läuft das Gelände flacher aus, wir haben den Talgrund erreicht, es sind nur noch ein paar hundert Meter bis zur schmalen Straße. Und dann ist es endlich, endlich, endlich soweit, wir stehen alle mehr oder weniger wohlbehalten auf dem schwarzen Asphaltband, das wir so herbeigesehnt haben. Was für eine Erleichterung, was für eine Wohltat. Bald sechs Stunden haben wir gebraucht, einfach unglaublich.
Wir beglückwünschen uns, ich blicke in müde Gesichter. Aber dennoch macht sich Stolz breit, wir haben es allen möglichen Widrigkeiten zum Trotz geschafft, diesen gigantischen Eisklotz zu überwinden. Was für ein Abenteuer, das wir uns jetzt ins Tourenbuch schreiben dürfen.
Aber noch sind wir nicht im Warmen, noch stehen wir nicht unter der Dusche, noch wissen wir nicht, wo wir heute Nacht bleiben können. Schnell ziehen wir unsere warmen Jacken an, stärken uns kurz und überlegen, was nun zu tun ist. Der angepeilte Bus nach Stryn, ist schon seit Stunden abgefahren, diese Möglichkeit ist also schon mal für heute gestrichen. Im nahen Bücherdorf Fjærland gibt es ein kleines gemütliches Hotel, das wissen wir, da wir dort vor der Tour wegen einer eventuellen Übernachtungsmöglichkeit nachgefragt hatten. Nur müssen wir ja irgendwie dort hin gelangen, ohne Auto können wir schlecht unsere Schlitten die 10 Kilometer über den Asphalt dorthin ziehen, unsere orangenen Freunde würden sich bis ins Dorf in ihre Einzelteile zerlegen. Nicht, dass ich ihnen das nicht gönnen würde, bei all dem Herumgezicke, mit dem sie uns die letzte 13 Tage genervt haben.
Zusammen mit Martin gehe ich zu einen nahen Gehöft, da sich dort gerade ein Bewohner gezeigt hat. Vielleicht hat er ja eine Möglichkeit, uns mitzunehmen. Wir sprechen den Mann an, er verspricht sich zu kümmern, muss nur rasch seine Tochter in den Kindergarten bringen. Alles klar, wir gehen zu den anderen zurück und warten ab, was nun wohl passieren wird. Nach Einger Zeit rollte ein verbeulter Toyota Bulli auf uns zu. Der Fahrer kurbelt das Fenster runter und grinst uns an: „Seid ihr die Wahnsinnigen, die bei dem Wetter über den Gletscher gelaufen sind? Mir gehört das Hotel in Fjærland, ich bin gekommen um euch abzuholen.“
Wir sind erleichtert, dass Bård so nett ist, und extra für uns losgefahren ist. Schnell sind die Pulkas und die Ski im riesigen Laderaum verstaut, wir rollen zum Hotel ins nahegelegene Dorf.
Das Hotel ist unglaublich schön, total liebevoll und sehr gemütlich eingerichtet. Es liegt direkt am Fjord und wir sind beinahe die einzigen Gäste, die Saison neigt sich langsam aber sicher dem Ende entgegen. Kurz darauf beziehen wir unsere Zimmer, ich bin völlig kaputt, total geschafft, der Kopf ist leer. Seit bald zwei Wochen habe ich die gleichen Klamotten an, ich stinke und möchte nur noch zum Telefon greifen, um mich zu Hause endlich sicher und wohlbehalten zurück zu melden. Ich bin fertig, unglaublich fertig.
Was ich aus dieser Tour gelernt habe:
Die Fehlertoleranz ist im Winter wahnsinnig gering, die Gefahr einen Fehler zu machen, stets präsent
Auf einer Wintertour wird immer stündlich eine Pause gemacht und sich verpflegt, ganz egal ob man Hunger und Durst hat, oder nicht. Insbesondere bei sehr schlechtem Wetter sind Pausen essentiell wichtig, um für Notfälle immer genug Energie zu haben
Bei der Ausrüstung ist im Winter das Beste gerade gut genug
Bei schwierigen Passagen werden die GPS-Wegpunkte in sehr engem Abstand gewählt, so dass man nicht so leicht vom Kurs abkommt
Jeder auf einer Skitour hat zwingend eine Schneeschaufel im Gepäck! Meine Empfehlung ist nach einem ausführlichen Test dabei eine Schaufel mit Teleskopstiel der Marke Voile
Jeder auf einer Skitour hat einen vernünftigen Kompass dabei, man verlässt sich dabei niemals auf die anderen Teilnehmer
Es wird niemals an Gewicht und Stabilität bei sicherheitsrelevanter Ausrüstung gespart
Jacken und Hosen haben möglichst viele und möglichst große (Außen-) Taschen, so dass man unterwegs Handschuhe, Kompass, Karte, GPS-Gerät und Energieriegel immer sicher nah am Körper verstauen kann
Es müssen immer genug Reserven an Verpflegung und Brennstoff mitgeführt werden
Die Fjellvettreglene sind unbedingt zu beachten
Fundierte Praxistipps zur Sicherheit auf Wintertour findet man bei Outdoorseiten.net