Josten pa langs – eigentlich eine Traumtour – Teil 2
Ein beständiges, rhythmisches Geräusch hat uns in der Nacht erst spät in den Schlaf finden lassen. Es hörte sich an, als würde jemand durch den Schnee stapfen, um zu unserem Unterschlupf zu gelangen. Bei näherer Betrachtung im Morgengrauen stellt es sich allerdings heraus, dass lediglich an einer Stelle Schmelzwasser geräuschvoll von der Decke tropft. Der Effekt ist enorm, das Kopfkino hat zumindest mir etwas ganz anderes vermittelt, ich habe ziemlich wirres Zeug geträumt.
Neuer Tag – neue Herausforderungen – der zweite Tag
Nun gucken wir alle am Morgen ziemlich verschlafen aus der Wäsche und versuchen, unsere müden Knochen zu neuem Leben zu erwecken. Zum Glück ist es nicht wirklich kalt, die Nacht im kuscheligen Schlafsack war ziemlich gemütlich, die Temperatur scheint nicht weit unter den Gefrierpunkt abgesunken zu sein. Mich drängt die Blase zum Aufstehen und so ziehe ich mir etwas über, um mich draußen vor dem Tunneleingang zu erleichtern.
Kurz darauf stehe ich im Schnee und mein Blick fällt auf die Aufgabe, die uns gleich nach dem Frühstück erwarten wird. Unser Plan ist es, heute bis zum Ende des Rauddalsvatnet über das Eis zu laufen. Dort befindet sich die Skridulaupbu Hütte des DNT, in der wir übernachten wollen, bevor es für uns dann endlich auf den eigentlichen Gletscher gehen soll.
Wie wir aber hinab zum Eis auf dem See gelangen sollen, ist mir noch völlig schleierhaft. Die Seen, die hier zur Stromgewinnung genutzt werden, sind im Winter zumeist größtenteils abgelassen, das heißt, es sind nur noch geringe Mengen Wasser im See vorhanden. So wird frühzeitig Platz für die Wassermassen des Frühjahr geschaffen. Die Uferböschung fällt dann bis weit hinein in den See trocken und man läuft unter Umständen auf dem Seeboden entlang. Hier direkt an der Staumauer ist der See aber offen, es hat sich kein Eis gebildet, da immer noch ein wenig Wasser aus dem See heraus beständig abfließt. Um nachher auf das sichere Eis beziehungsweise den trockenen Seeboden zu kommen, werden wir am sehr steilen Ufer die Pulkas einige hundert Meter über einen ziemlich gefährlichen Hang ziehen müssen. Da sich mir sowieso nicht erschließt, wie das gleich überhaupt gefahrlos gehen soll, gehe ich zurück zu den anderen und wir machen uns erstmal daran, das Frühstück zu vertilgen.
Das Fluchen der anderen erinnert mich dabei wieder daran, dass wir vor der Tour nicht ausprobiert haben, ob unsere Kochtöpfe mit den Wärmetauschern unter dem Boden überhaupt richtig auf die leichten Gaskocher passen, die wir diesmal mit dabei haben. Leider passen sie nicht wirklich aufeinander, wie leider wir erst hier festellen, selbst wenn Kocher und Topf vom selben Hersteller stammen, was uns wirklich wundert. Das ist nicht nur ärgerlich, sondern es ist auch gefährlich, denn wenn so ein kippeliger Drei-Liter-Topf voll mit kochendem Wasser im Zelt vom Kocher rutschen sollte, ist das nicht nur ziemlich unangenehm, sondern es besteht auch die Gefahr, sich zu verbrühen. Wir notieren diesen Fauxpas auf unserer Liste für zukünftige Touren, man lernt ja immer wieder dazu. Nun aber müssen wir die nächsten zehn Tage stets aufpassen, wenn wir die Kocher zum Schneeschmelzen anwerfen. Ein ärgerlicher, kleiner Fehler.
Nach dem Frühstück packen wir wieder sorgfältig unser Zeug zusammen, ich merke, wie sich bei mir eine gewisse Anspannung breit macht. Wir haben noch reichlich Proviant dabei und dementsprechend schwer sind unsere Schlitten. Wie zur Hölle sollen wir die sperrigen Dinger über das steile Ufer bis zum sicheren Eis bekommen? Erst dort werden wir wieder auf die Ski steigen können, vorher müssen wir aber richtig ranklotzen.
Das nächste unerwartete Hindernis
Es geht los, wir wuchten die Schlitten vor unseren Unterschlupf ins Freie. In zwei Teams aufgeteilt machen wir uns daran, über ein steiles Schneefeld etwas weiter hinab zum Ufer fast direkt an der Staumauer zu gelangen. Das geht ganz gut, die Ski und Stöcke sind dabei auf den Schlitten verstaut, wir stapfen durch den tiefen Schnee und führen die schweren Pulkas neben uns her. Da das Gelände dort sehr steil ist, legen wir alle Wege doppelt zurück, denn wir müssen jede Pulka immer zu zweit sichern, einer allein kann sie hier unmöglich gefahrlos ziehen.
Nach ungefähr 50 Metern zeigt sich dann auch direkt das erste richtige Hindernis, das mir wirklich das Blut in den Adern gefrieren lässt. Hier befindet sich ein separater Abfluss des Sees. Im Sommer liegt er tief unter der Wasseroberfläche verborgen, aber nun liegt er komplett frei. Vor dem großen dunklen Loch hat sich ein weiter offener Bereich gebildet, hier ist das Wasser nicht gefroren. Der Eingang ist aus Beton gegossen und wir müssen etwas oberhalb von ihm am Hang entlang die Stelle passieren. Wenn wir ausrutschen, fliegen wir zehn Meter durch die Luft und landen geradewegs im eiskalten Wasser. Und auch wenn wir die Pulka nicht halten können, wird sie unweigerlich direkt in die Fluten hinab rauschen und unwiederbringlich versinken. Hier heißt es ruhig und konzentriert im Team zu arbeiten.
Als Vorhut erreichen Gitti und Chris diese Stelle und überwinden sie rasch, mir fällt ein Stein vom Herzen. Martin und ich kommen nach und können die Tritte der anderen nutzen, was mir ein wenig Sicherheit gibt. Wir wuchten den Schlitten über diese gefährliche Stelle, doch auch dahinter wird es nicht einfacher. Das Ufer ist Steil, wir rutschen weg, brechen immer wieder bis zum Knie durch die Schneedecke und mühen uns ab, den schweren Schlitten mitsamt den sperrigen Ski oben drauf sicher voran zu bringen.
Wir schätzen, dass wir mindestens ein paar hundert Meter am Hang entlang gehen müssen, bevor das Eis uns sicher tragen wird. Also heißt es, dass wir uns noch eine ganze Weile abrackern müssen, was für anstrengende Aussichten. Mir kommen langsam leise Zweifel, ob das alles so gut ist, aber ich will ja nicht als Memme dastehen, also reiße ich mich zusammen, obwohl meine Arme und Hände wie Feuer brennen und mir mit jedem Schritt die Kräfte schwinden.
Die anderen beiden der Vorhut kommen gut voran und zeigen uns mit ihren Spuren, wo es lang geht. Schon bald darauf haben sie den ersten Schlitten an einer Stelle deponiert, bei der es flacher wird und kommen uns entgegen, um ihren zweiten Schlitten nachzuholen. Auch wir schaffen es bald, unseren ersten Schlitten sicher abzuliefern, dann geht es über das steile Ufer zurück, um auch unsere Nummer zwei am Ufer entlang zu wuchten. Was für eine Plackerei, ich habe keine Lust darauf, aber wir sind ja noch nicht einmal auf dem Gletscher, da muss ich jetzt wohl oder übel durch. Und so stapfen wir zurück und das kräftezehrende Spiel geht erneut von vorne los. Ich mache drei Kreuze, als wir die gefährliche Stelle am Abfluss erneut mit dem Schlitten passiert haben. Die Spur ist nun ausgetretener, das macht es aber nicht unbedingt einfacher, brechen wir doch nun noch öfter durch die Schneeauflage.
Beim Gedanken daran, dass dies im Zweifel bei schlechtem Wetter auf dem Gletscher eventuell auch unser Rückweg sein könnte, verlässt mich kurz der Mut, aber ich fange mich und kurz darauf stehen wir alle gemeinsam auf einer erhöhten Stelle am Ufer und haben die vier Schlitten endlich bei uns. Wir legen eine kurze Pause ein und überlegen, wie es weiter geht. Zum Glück befinden wir uns nun ungefähr an der Position, wo man sich auf das Eis wagen könnte (unter www.iskart.no findet ihr eine Karte mit allen norwegischen Seen, bei den größeren werden im Winter die Eisstärke sowie unsichere Bereiche angezeigt).
Wir sind ziemlich geschafft, aber von hier aus sollte es möglich sein, den See zu betreten. Wir ziehen unsere Schlitten noch ein wenig abwärts und schnallen endlich wieder unsere Ski an. Die ganze Aktion hat uns einige Stunden gekostet, es ist beinahe zwei Uhr Nachmittags, als wir endlich richtig auf dem See loslaufen können.
Auf geht’s, ab geht’s endlich übers Eis
Für Gitti und Chris ist es das erste Mal, dass sie mit einem Pulkaschlitten hinter sich und mit Ski unter den Füßen über einen solch großen See laufen. Ich kann mich gut an mein erstes Mal erinnern, der Gedanke an das eiskalte Wasser unter mir war echt schwer zu fassen, aber nach einer Weile merkt man, wie dick das Eis doch ist und dass keine Gefahr von ihm ausgeht. Wir halten uns am Anfang zudem noch etwas entfernt von der Seemitte und folgen dem hier flachen aber etwas welligen Uferbereich, auf dem sich die Eisplatten mit einer satten Schneeschicht darauf beim Ablassen des Wassers sicher abgelegt haben.
Der in der Eiskarte als unsicher eingezeichnete Bereich ist tatsächlich unsicher, denn man sieht aus Ferne, dass sich dort kleine Wellen auf dem in diesem Bereich offenen Wasser kräuseln. Ein Anblick, der zum Grübeln anregt, wir aber haben keine Zeit dazu, denn zu allem Überfluss scheint sich nun das Wetter gegen uns verschworen zu haben. Den Morgen über war schon eine niedrige Wolkendecke über uns, nun aber frischt der Wind ordentlich auf und die Wolken werden immer dunkler.
Eine richtig steife Brise kommt uns vom Gletscher entgegen, alles flattert geräuschvoll in den kräftigen Windböen und wir ziehen die Kapuze tiefer ins Gesicht. Zum Glück sind es nur wenige Kilometer bis zur Hütte, die aber gehen nun nicht mehr ganz so einfach von der Hand. Wir mühen uns gegen den Wind, kommen aber ganz gut voran. Vier kleine bunte Farbtupfer in dieser abweisenden Umgebung bewegen sich im Schneckentempo durch die weiße Landschaft, an eine Unterhaltung ist bei der Geräuschkulisse nicht zu denken und so hängt jeder seinen Gedanken nach.
Als ich heute morgen die Softshellhose anzog, dachte ich, dass das eine gute Idee wäre. Ich schwitze schnell und viel wenn es anstrengend wird, daher achte ich immer auf eine gute Belüftung. Aber nun treibt der Wind von vorn nassen Schnee vor sich her und dieser bildet dann auf meiner nicht wasserdichten Hose große Eisplatten auf den vorderen Oberschenkelpartien. Die Wärme der Anstrengung lässt den Schnee erst kurz antauen und der eiskalte Wind ihn kurz darauf wieder gefrieren, was ziemlich unangenehm ist. Bei dem Wetter möchte ich mich nicht mitten auf dem See nackig machen und die Hose wechseln, das steht fest. Und wenn ich die Hardshellhose einfach drüber ziehe, werde ich mich totschwitzen, also Augen zu und durch für heute. Morgen werde ich dann wohl nur die Hardshellhose anziehen, wenn denn der Wind weiterhin so bläst.
Langsam erreichen wir das westliche Ende des Sees und gelangen in einen schmaleren Bereich, der an Bilder und Filmaufnahmen aus der Arktis erinnert. Da das Wasser soweit abgelassen ist, laufen wir hier direkt auf dem Seegrund und um uns herum befinden sich nun kleine Hügel, auf denen sich die Eisplatten auftürmen. Eine krasse Kulisse, die mehr an polare Packeisgebiete erinnert als an norwegische Fjellgebiete. Normalerweise ist hier im Sommer alles tief unter Wasser verborgen, nun aber schlängelt sich unsere kleine Karawane auf der Suche nach dem geeigneten Weg hindurch.
Kurz darauf entdecken wir in einiger Entfernung eine kleine Hütte am Ufer, es macht sich Vorfreude auf eine warme Unterkunft für die Nacht breit. Wir wenden uns der Hütte zu und erklimmen die Uferböschung des Sees. Kurz darauf erreichen wir sie und müssen leider feststellen, dass dies leider noch nicht die von uns angepeilte DNT Hütte ist, wir müssen wohl oder übel noch einige hundert Meter weiter gehen.
Da der Weg ja im Winter nicht markiert ist, versteigen wir uns kurz in einem Uferriegel aus Fjellbirken, ein tiefes Bachbett macht es uns zudem unmöglich, auf direktem Weg zur DNT Hütte zu laufen. Wir drehen um und laufen erneut hinab auf das Eis des Sees, wir müssen diesen Bereich umgehen und anschließend erneut das Ufer erklimmen. Meine Lust auf Abenteuer schwindet gerade etwas, der Wind lässt nicht nach und die Umgebung um uns herum verschwindet langsam in einer einzigen langen Dämmerung, da kommen einem schon mal einige düstere Gedanken.
Ein letzter hyggeliger Rückzugsort weitab vom Schuss
Doch dann haben wir es für heute endlich geschafft, nur noch einen steilen Absatz hinauf und wir stehen vor der urigen Skridulaupbu Hütte. Wir öffnen die Tür zum Vorraum und sind froh, aus dem Wind zu kommen, der uns den ganzen Nachmittag über gepiesackt hat. Es benötigt etwas Zeit, bis der Ofen in die Gänge kommt, dann aber macht sich rasch eine behagliche Wärme im Inneren breit. Draußen heult der Wind und zerrt an der Hütte, wir aber sitzen im Schein der Stirnlampen und der Kerzen in der gemütlichen Wohnstube und entspannen uns langsam.
Die Hütte wird nicht oft genutzt, lediglich ein paar Dutzend Wanderer kommen in jedem Jahr her, so ist sie ein kleines verstecktes Kleinod, weitab der oft begangenen normalen Wanderrouten. Da nicht so viele Leute herkommen, haben Herr und Frau Maus zwischenzeitlich das Kommando hier übernommen, wir müssen die Matratzen von ihren Hinterlassenschaften befreien, bevor wir es uns in den Betten gemütlich machen können.
Mittlerweile sieht es hier drinnen aus wie in einem U-Boot. Überall unter der niedrigen Decke hängen nun Hosen, Jacken und alle möglichen Dinge zum Trocknen. Die Hütte wird alsbald muckelig warm, wir widmen uns den leckeren Kleinigkeiten aus unseren Proviantbeuteln und kurz darauf steht auch schon das Abendessen auf dem Tisch. Zum Nachtisch gibt es noch eine große Dose mit eingelegten Pfirsichen, das lassen wir uns nicht nehmen.
Wir sprechen über den Tag, das Wetter und die Aussichten auf die nächsten Tage. Hoffentlich beruhigt sich das Wetter morgen, denn es steht mit dem Aufstieg auf den Gletscher einer der schwierigsten Abschnitte der Tour auf dem Programm. Nachdem wir die Hütte vor dem Schlafengehen noch einmal ordentlich durchgelüftet haben, wandern wir nach und nach in unsere warmen Schlafsäcke. Ich liege noch länger wach, das Wetter und die vor uns liegenden Herausforderungen beschäftigen mich, aber irgendwann finde auch ich in den Schlaf.
Der dritte Tag – endlich ruft der Gletscher
Die Nacht war unruhig, ich habe nicht besonders gut geschlafen, wirre Träume kamen und gingen. Ein erster verschlafener Blick von meinem Bett aus zum Fenster hinüber lädt auch nicht gerade ein, direkt jubelnd aus den Federn zu springen, draußen ist es grau wie am Vortag. Immerhin hat der Wind scheinbar nachgelassen, wenigstens etwas positives. Langsam erwacht die Hütte zum Leben, ich blicke in ebenso verschlafene Augen.
Wir starten den Ofen und frühstücken, reden über die Verhältnisse und was uns wohl erwarten wird. Schnell sind wir uns einig, dass wir das Wetter, sei es nur einigermaßen gut, ausnutzen müssen. Wer weiß, was uns ansonsten blüht, wenn wir hier in der Hütte länger pausieren würden. Also ist die Direktive für den Tag klar, wir werden aufbrechen und versuchen den Aufstieg zu meistern. Nach dem Frühstück schnalle ich kurz ein erstes Mal für heute die Ski an, das Plumpsklo liegt etwas abseits und ist nur so zu erreichen, der Schnee ist einfach zu tief zwischen den lichten Birken um uns herum. Ein letztes Mal für mindestens eine Woche lang den Komfort eines mit Brettern umbauten Raumes um sich zu erleichtern, was für ein unerhörter Luxus im Vergleich zu dem, was uns bald schon morgens im kalten Schnee erwarten wird.
Nachdem jeder sein Geschäft erledigt hat und wir unsere mehr als sieben Sachen zusammengepackt und wieder in der Pulka verstaut haben, heißt es Abschied zu nehmen von unserem gemütlichen Refugium, der hyggeligen Skridulaupbu Hütte.
Wir gehen wieder hinab zum zugefrorenen See und folgen ihm bis ganz zu seinem Ende. Dort mündet ein kleiner Bach in den Rauddalsvatnet, der sich aus dem Nedre Leirvatent speist. Wir folgen dem Bach und finden auf Anhieb eine gute Spur durch die Moränenhügel, die den Bach säumen. Dann geht es für uns auf den etwas höher liegenden See, den wir zügig überwinden können, das Eis ist flach und die Schneeauflage ermöglicht ein rasches Vorankommen. Wir erblicken nicht weit von uns eine Brücke, die den Abzweig eines Sommerweges markiert. Der Sommerweg würde nun geradewegs nach Südwesten in Richtung Tverrbotnen abzweigen, wir aber werden einfach weiter nach Westen hinauf zum Gletscher steigen. Aber vorher halten wir noch kurz inne, stärken uns mit Tee und einem Snack. Beim Blick auf den vor uns liegenden Hang seufze ich, denn selbst im Sommer hätte ich nur wenig Lust, diesen in direktem Wege anzugehen.
Es gibt aber keine Alternative, wir müssen dort hoch, wollen wir auf den Sikilbreen gelangen. Martin geht voraus und legt in dem steilen Gelände eine gute Spur. Zum Glück sind unsere Steigfelle noch recht neu, sie ermöglichen uns einen super Grip, wir erklimmen Meter um Meter in einem weiten Zickzack. Da sich bisher nur wenige Leute an diesem Abschnitt im Winter versucht haben, gibt es auch nirgendwo eine Wegbeschreibung oder ähnliches, wir müssen uns also auf unser Gespür und unsere Erfahrung verlassen, um einen möglichst guten Weg hinauf zu finden, um die bald 600 Höhenmeter zu überwinden. Es gelingt auf Anhieb, nur ab und an hallen unflätige Flüche den Hang hinab, und zwar immer dann, wenn sich bei einem von uns die Pulka überschlägt und wir dann jedes Mal Mühe haben, diese alleine am Berg aufzurichten. Zwischendurch trifft es Chris ganz besonders oft, irgendwann reicht es ihm und er packt seinen Schlitten um, der Schwerpunkt liegt danach tiefer, er kippt nicht mehr so leicht.
Glücklicherweise bricht zwischenzeitlich die Wolkendecke kurz auf, die Stimmung um uns herum ist einfach gewaltig und dramatisch schön, ich werde daran erinnert, warum wir uns diese Mühen aufhalsen.
Keuchend erreiche ich als letzter unserer Gruppe den flacher werdenden Teil des Anstiegs. Ich mache drei Kreuze als ich registriere, dass wir nun bald endlich oben sind. Es ging besser als gedacht, ich bin aber dafür komplett nass geschwitzt. Wie bitte soll man auf einer Wintertour nicht schwitzen, wie immer berichtet und geraten wird?
Nach dem tollen Sonnenschein gerade übernehmen nun wieder die Wolken das Kommando, es zieht sich wieder zu. Ich ziehe mir etwas Wärmeres über und wir beratschlagen, wie weit wir heute noch gehen wollen. Es soll nicht mehr weit gehen, beschließen wir, lediglich etwas flacher sollte es schon sein. Und so gehen wir noch eine gute Stunde weiter, bevor wir unsere zwei großen Zelte das erste Mal auf dieser Tour aufschlagen. Um uns herum ist bald nicht weiter mehr zu sehen als ein weißes Weiß. Oben, unten und um uns herum, alles ist wie in Watte gepackt.
Wir richten uns ein, Martin und ich im gemütlichen Svea 3 Camp von Helsport, Gitti und Chris im riesigen Keron 4 GT von Hilleberg. Die Ausrüstung ist rasch verstaut, die Isomatte samt Schlafsack ausgebreitet, wir ruhen uns erst einmal aus. Martin erzählt mir von seinen vorherigen Versuchen diese Tour zu machen. Bei einem der Versuch musste er genau hier an dieser Stelle bei schlechtem Wetter einige Tage im Zelt ausharren und umkehren, die Verhältnisse waren einfach zu schwierig. Hoffentlich blüht uns nicht auch so etwas, einen Ruhetag im Schlafsack zu verbringen ja ganz schön, aber gleich mehrere Tage liegend im Zelt zu hocken, da fällt einem irgendwann ganz sicher die Decke auf den Kopf. Vom dann vermutlich draußen tobenden Sturm gar nicht erst zu reden, ich will gar nicht daran denken.
Nachdem wir uns etwas ausgeruht haben, stapfen wir hinüber zu den anderen und machen uns daran, das Wasser für das Abendessen zu schmelzen. Bei vier Leuten dauert es eine ganz schöne Weile, aber wir haben ja Zeit und reden über den Tag und die Zeit, die noch vor uns liegt. Der Aufstieg hinauf zum Gletscher hat besser geklappt, als ich es erwartet hatte. Die nächsten Tage sollte es mehr oder weniger flach über das ewige Eis gehen, und wenn ich daran denke, wie spektakulär die Sonne heute nur ganz kurz rauskam, kann ich es kaum erwarten, diese Stimmung auf dem Gletscher einmal länger zu erleben.
Der vierte Tag – wie viele Arten von Weiß gibt es eigentlich?
Der nächste Morgen beginnt erneut mit viel Weiß um uns herum. Als ich vor das Zelt trete um mich zu erleichtern, sehe ich nicht mehr, als ein paar Meter weit um mich herum, ansonsten hängen wir inmitten einer dicken weißen Suppe. Hm, so war das aber nicht geplant, murmle ich, als ich rüber in das Zelt von Gitti und Chris gehe, um dort zu frühstücken.
Wir hegen die Hoffnung, dass das Wetter irgendwann besser wird, immerhin verspricht uns dies der Wetterbericht, den wir in Pollfoss mitgenommen haben. Leider haben wir hier keinen Handy-Empfang, aber was soll’s, wir können es ja eh nicht ändern, wir schauen einfach mal, wie es sich entwickelt. Da wir nun auf dem weitläufigen Gletscher unterwegs sind, besteht auch keine Gefahr, wenn wir im White-Out herumlaufen, denn wenn wir uns an unsere Wegpunkte halten, geht es ganz einfach sanft auf und ab, da besteht bei ausreichender Vorsicht überhaupt kein Problem.
Wir packen die Schlitten und brechen auf in diesen Tag, der uns nicht viel mehr als Weiß, Weiß und noch mehr Weiß bringen wird. Vom Sikilbreen aus geht es in Richtung des Sygnekarsbreen. Zwischendurch erkennen wir nur schemenhaft, was um uns herum liegt. Die Aussichten sind sehr mau und wenn auch nur von ganz kurzer Dauer. Immerhin erkennen wir fast immer einen diffusen Horizont, das erleichtert ein wenig die Orientierung. Stunde um Stunde gehen wir nur unterbrochen von den Pausen, in denen wir uns stärken und unsere Position bestimmen. Es hat etwas meditatives, insbesondere wenn man sich ganz am Ende unserer kleinen Gruppe einreiht und einfach nur den anderen hinterherläuft.
Gegen Nachmittag befinden wir uns nordwestlich des markanten Klubben – Berges. Eigentlich hatten wir gehofft, ihn bequem besteigen zu können, nun aber sind wir froh, ihn überhaupt zu erkennen. Durch das White-Out haben wir sicher den einen oder anderen unnötigen Schlenker gemacht, aber nun geht es sanft hinab in Richtung unseres Tagesziels und wir überlegen bald, bis wohin wir heute noch laufen wollen.
Das Wetter wird zunehmend ungemütlicher als es eh schon den ganzen Tag war. Wir liegen von der Distanz her gut im Plan, also suchen wir uns eine Stelle, die relativ flach ist, was angesichts der wenigen Sicht eine echt Herausforderung ist. Mittlerweile haben wir uns bis auf eine südwestliche vom Klubben aus gesehen Position vorgearbeitet. Hier sieht es ganz gut aus, also beschließen wir hier die Zelte aufzuschlagen. Sich den ganzen Tag lang durchs White-Out zu hangeln ist ziemlich anstrengend, nicht unbedingt körperlich, aber irgendwann ermüdet der Kopf doch sehr, ständig überprüft man den Kompass, die Karte und das GPS. Wir sind froh, als die Zelte stehen und die ganze normale Camproutine mit Ausruhen, Wasserschmelzen und Kochen einsetzt. Wie behaglich man sich doch in dieser lebensfeindlichen Umgebung fühlt, wenn man erst im sicheren Zelt hockt und es sich gemütlich gemacht hat.
Der fünfte Tag – endlich Turglede vom Allerfeinsten
Der nächste Morgen erwartet uns endlich mit strahlendem Sonnenschein. WOW! Unglaublich wie positiv sich so wunderschönes Wetter auf die Gemütslage auswirken kann! Wir schlüpfen aus den warmen Daunentüten und begrüßen überschwänglich den neuen Tag! Die Schlafsäcke wandern zum Trocknen und Auslüften auf die Zelte und irgendwie geht bei diesem Wetter alles einfacher von der Hand. In der Apside des großen Zeltes machen wir es uns zum Frühstück gemütlich, es wird schnell warm und wir kramen zum ersten Mal die Sonnencreme aus dem Gepäck. Kaum eine Wolke zeigt sich am Himmel, als wir vor einer gigantischen Kulisse unsere Sachen packen und alles erledigen, was morgens so anfällt.
Heute soll es für uns in Richtung des Lodalsbreen gehen. Diese Gletscherzunge liegt in einem tiefen Talkessel, den wir überwinden müssen um dann auf der anderen Talseite über die Småttene Gletscherzunge wieder aufsteigen zu können. Erst dann sind wir auf dem eigentlichen Jostedalsbreen. Dieser Übergang ist auf unserer Tour die absolute Schlüsselstelle, denn wenn hier die Verhältnisse schlecht sind und zu wenig Schnee liegen sollte, ist dieser Bereich von tiefen Gletscherspalten durchzogen und für uns unpassierbar. An dieser Stelle musste Martin bei einem weiteren vorangegangenen Versuch der Tour unverrichteter Dinge umkehren, da es damals dort zu gefährlich war. Extra für diesen Abschnitt haben wir ein Kletterseil, Gurte und Eispickel mit eingepackt, da wir hier vermutlich zusammen als Seilschaft gehen müssen, um uns zu sichern.
Mit reichlich positiver Energie ob des guten Wetters, aber auch mit einer gehörigen Portion Respekt gegenüber der Schlüsselstelle ziehen wir wieder los. Das Wetter ist wirklich zum niederknien und wir können zum ersten Mal im T-Shirt laufen. Die Kulisse um uns herum ist einfach nur der Wahnsinn, so haben wir uns alle diese Tour erträumt. Über einen sanften Rücken zwischen Storenosa und Raudskarvfjellet geht es direkt aufwärts, was aber bei diesen Verhältnissen das reinste Vergnügen ist. Ich laufe etwas vor den anderen und bekomme mich kaum mehr ein vor lauter Turglede! Der Hang läuft oben flach aus und direkt vor mir erscheint der mit 2082 Metern ziemlich imposante Lodalskåpa. Ich halte inne und warte auf die anderen, alle haben ein breites Grinsen im Gesicht, als sie neben mir ankommen und wir gemeinsam eine Pause einlegen.
Wir halten nach der kurzen Stärkung direkt auf den Lodalskåpa zu, es geht nun gemächlich abwärts. Wir sind gespannt, ob es möglich sein wird, in den Talkessel hinab zu steigen um den Aufstieg auf den Jostedalsbreen über den Småttene zu versuchen. Ein leichte Anspannung macht sich bei mir breit, bin ich doch ziemlich unerfahren in alpinem Gelände, insbesondere solche Gletscherbrüche flößen mir gehörigen Respekt ein.
Schon bald stehen wir am steilen Hang, der uns hinab führen soll und die eigentliche Schlüsselstelle unserer Tour markiert. Wir sehen uns um, versuchen die Lage zu erfassen und richtig einzuschätzen. Es zeigen sich zwar in den Seitenbereichen einige große Spalten, der zentrale Bereich aber ist mit einer kräftigen Schneeauflage versehen, da sollte es relativ gut möglich sein, sicher abzusteigen. Ich bin nicht sehr geübt im Umgang mit Klettergurt und Eispickel, aber nun muss ich da einfach durch. Wir legen Gurtzeug samt Bandschlingen und entsprechender Ausrüstung an. Da Gitti die meiste Erfahrung hat, wird sie das Seil bei sich haben und so im Fall der Fälle die Sicherung übernehmen. Da das Gelände wirklich steil ist, werden die Ski und Stöcke auf die Pulka geschnallt. Wir klinken das Zugseil der jeweiligen Schlitten vorn bei uns im Klettergurt ein und führen die Pulka mit der Hand langsam in den Hang hinein. Nur Chris bringt den Mut auf, diesen Abstieg komplett auf Ski zu bewerkstelligen. Als ich ihn dabei sehe, nötigt mir das ungeheuren Respekt ab, so fruchtlos bin ich nicht und meine Skikünste geben das auch nicht her, da gehe ich doch lieber zu Fuß, auch wenn es beschwerlicher sein mag. Jeder Norweger würde vermutlich schmunzeln, wenn er uns hier sehen würde. Diese Teufelskerle aus dem Norden würden vermutlich einfach kurz die Hand zum Gruß erheben und in eleganten Telemarkschwüngen den Abhang hinunter gleiten.
Der Hang ist mächtig steil, aber mit festen Tritten durchaus machbar, das merke ich bald. Zwischendurch fluche ich zwar wie ein Rohrspatz, da mir immer wieder der Schlitten umfällt, aber es geht doch ganz gut. Irgendwann wird es flacher und ich sehe, wie Gitti sich ganz einfach seitlich auf die Pulka setzt und kontrolliert gleitend abfährt. Ich tue es ihr gleich und schon bald sause ich mit einem Affenzahn ganz bequem durch den tiefen Schnee. Die Auslaufzone ich ja gigantisch groß, da kann nichts passieren. Kurz darauf haben wir es alle geschafft und schnallen für wenige Meter die Ski an, denn wir wollen inmitten dieser unglaublichen Umgebung unser Lager aufschlagen. Wir sind total euphorisch, das Wetter ist unfassbar gut, es ist sogar so warm, das wir bald darauf schon nur mit leichten Sachen bekleidet in der Sonne sitzen und es uns richtig gut gehen lassen.
Unsere Gespräche kreisen dabei immer wieder um den Aufstieg morgen, denn der Blick lässt sich kaum von den Eismassen abwenden, die ganz gemächlich hier westlich von uns über den Småttene in den Talkessel hinunter fließen, in dem wir gerade Zelten. Der Aufstieg sieht bei diesen guten Verhältnissen aus der Nähe wirklich machbar aus, das konnten wir ja nur mutmaßen, als wir hier hinab ins Loch fuhren.
Dennoch werden wir viel Vorsicht walten lassen und morgen früh schon sehr zeitig aufbrechen, denn der Småttene liegt praktisch den ganzen Tag in der prallen Sonne, da wollen wir lieber kein Risiko eingehen, denn ab und zu hören wir an den Seiten deutlich Steinschlag. Und wer weiß schon aus der Entfernung, wie kräftig die Schneebrücken im oberen Bereich sind. Wir werden es also ausprobieren müssen. Einen Plan haben wir uns jedenfalls zurecht gelegt, ob der aufgehen wird, wir wissen es es nicht. Aber haben wir nicht ein Abenteuer und die Herausforderung gesucht? Ich bin mir zwischendurch nicht immer so sicher, ob das alles etwas für mich ist, schließlich bin ich in alpinem Gelände wirklich ein großer Schisser, andererseits mag ich es ja, mich solchen Situationen zu stellen und sie wenn möglich zu überwinden, daran zu wachsen.
Wir werden es also morgen probieren, das steht fest. Wenn wir den Aufstieg über den Småttene auf den Jostedalsbreen irgendwie schaffen, dann werde wir ganz sicher mit einer unglaublichen Landschaft belohnt werden und ganz einfach über die weiten Gletscherflächen bis fast hinab zum Fjord gleiten. Dann werden keine großen Hindernisse und Herausforderungen mehr auf uns warten, und das sind Aussichten, die mich dann doch mit einem leichten Lächeln voller Vorfreude einschlafen lassen.